den Zustand der
Tochter versteckt sie hinter einem unaufhörlichen Redeschwall. Innerhalb weniger
Stunden wir deutlich, daß Evas Bemühungen um die Zuneigung der Mutter an der
Verschiedenartigkeit der beiden Frauen scheitern muß. Die verkrampfte Höflichkeit weicht
langsam aber sicher einem offen zutage tretenden Haß, der während einer nächtlichen
Aussprache zwischen den beiden Frauen vollends ausbricht. Das Gespräch wird zur
zentralen Szene des Films; die Aussprache gerät zu einer schonungslosen Abrechnung, in
der Eva ihrer Mutter vorwirft, ihre Töchter um ihrer Karriere willen vernachlässigt
zu haben. Zudem habe sie Eva mit ihrer übermächtigen egoistischen Persönlichkeit
erdrückt. Sie sei unfähig, zu lieben. Eva sieht darin den Grund für ihre eigene seelische
Verkrüppelung. Während Eva sich unter dem Alkoholeinfluß von den traumatischen
Erlebnissen ihrer Jugend freizusprechen scheint, sieht Charlotte sich als Opfer ihrer
Vorgeschichte; sie reist überstürzt ab. Eva ist am Ende selbstbewußter, da sie sich der
Wahrheit über ihre Person gestellt hat. Bergmans letzter dramaturgischer Hinweis ist die
Hoffnung. Eva hat ihrer Mutter vergeben und will versuchen, sie zu akzeptieren. In
einem Brief bittet sie Charlotte um Verzeihung. Sie faßt den Vorsatz, weiterhin für die
Mutter offen zu sein: »Ich glaube nicht, daß es zu spät ist. Es darf nicht zu spät
sein.«
Der Titel Herbstsonate deutet bereits auf die zentralen Thematiken des Films. Wie
Ketcham2
2 Charles B. Ketcham: The Influence of Existentialism on Ingmar Bergman. An
Analysis of the Theological Ideas Shaping a Filmmaker’s Art. Lewiston 1986,
S. 343.
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ausführt, ist der Herbst die Jahreszeit des Paradoxen, als solche gut geeignet für
Bergmans Symbolik: Herbst bedeutet Gelassenheit der Natur, die aber zugleich die
ersten bedrohlichen Anzeichen des Winters trägt. Der Herbst läßt die Reife der Natur
erkennen, aber dies auf Kosten des Alters. Er suggeriert Erfüllung, jedoch als Präludium
des Verlustes. Er bedeutet Leben, jedoch stets in Gegenwart des winterlichen Todes.
Indem Bergman einem solch aussagekräftigen Symbol das Wort Sonate zufügt, betont er
die Funktion der Musik. Sie war für den Regisseur schon immer ein ausdrucksstarkes
dramaturgisches Mittel. So zitiert er in Herbstsonate – neben Händels Sonate F-Dur
op. 1 im Vorspann – Chopins Prélude Nr. 2 a-Moll op. 28 und die Sarabande
aus der Suite Nr. 4 Es-Dur für Violoncello von Johann Sebastian Bach (BWV
1010).
Das Wort »Sonate« suggeriert zudem den dramaturgischen Aufbau, der wie ein
Kammerspiel gestaltet ist. Kennzeichen des Kammerspiels sind zum einen wenige
Figuren – der Film beschränkt sich im wesentlichen auf vier Charaktere, gleich
einem Streichquartett: Eva, Charlotte, Viktor und Helena. Einheit von Ort
und Zeit, wenige Innenräume sind weitere Merkmale. Abgesehen von einigen
kurzen Szenen und Rückblenden verlassen wir nie Evas Haus. Der Film setzt auf
Wiederholungsmuster – Anfang und Ende sind fast identisch: Viktor spricht zu den
Zuschauern, während Eva im Hintergrund am Schreibtisch sitzt. Dieser Rahmen und die
dramaturgische Anlage der Charaktere ähnelt einer Sonatenhauptsatzform. Im
klassischen Sonatenzyklus wirkt das Prinzip der Gegensätzlichkeit. Themen
werden nicht nur einfach aneinandergereiht, sondern gegenübergestellt und
verarbeitet. Aus diesem Kontrastmaterial entwickelt sich der sogenannte
»Formbildungsprozeß«3
3 Günter Altmann: Musikalische Formenlehre. München/London/New York u.a. 1989,
S. 258–259.
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des Hauptsatzes. Die Verarbeitung oder Durchführung der Themen ist dem Konflikt im
Drama vergleichbar. Vereinfacht gesagt, beginnt die Exposition mit dem Thema A (im
Film wäre dies Eva) in der Grundtonart. Hinzu tritt das zweite Thema B (Charlotte),
das im Charakter sehr unterschiedlich ist. Durch die Reminiszensen
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