10. Exkurs: Das Zitat als Spiegel von Charakteren
10.1. Ingmar Bergman: Herbstsonate
Bisher verwiesen die Zitate als nationales Symbol oder sozialer Index auf ein
geschichtliches Umfeld oder gesellschaftliches Milieu, in denen sich die Charaktere
bewegten. Die Musik ist ein von der Regie zugefügtes dramaturgisches Mittel, ohne daß
die Charaktere sich in den Szenen unmittelbar mit der Musik auseinandersetzen. Zwar
erleben wir France in Lacombe, Lucien am Klavier, ihr pianistischer Vortrag verweist
jedoch auf eine andere – soziale – Ebene. In seinem Film Herbstsonate aus dem Jahr
1978 schafft Ingmar Bergman dagegen einen direkten Bezug zwischen den Charakteren
und der Musik sowie dem dramaturgischem Aufbau der Handlung.
Herbstsonate ist das erste und einzige Filmprojekt der beiden großen schwedischen
Bergmans. Der Regisseur hatte sich »mit feurigen Buchstaben in die Seele
geschrieben«1
1 Hauke Lange-Fuchs: Ingmar Bergman. Seine Filme - sein Leben. München 1988,
S. 242.
|
,
zusammen mit Ingrid Bergman einen Film zu drehen. In Herbstsonate präsentiert er
sich ein weiteres Mal als Frauenregisseur. Es ist ein Film um eine komplexe
Mutter-Tochter-Beziehung voller Spannungen, Hemmungen und subtiler Aggressionen,
die sich im Laufe der Handlung zu einem Konflikt steigern, der es den Frauen ermöglicht,
ihre vergifteten Rollen abzustreifen.
In Herbstsonate versammelt Bergman bekannte Motive und Konflikte vorangegangener Filme.
In einem stillen Pfarrhaus im norwegischen Bindal führt die verhärmte Pfarrersfrau Eva (Liv
Ullmann) mit ihrem zwanzig Jahre älteren Mann Viktor (Halvar Björk) ein zurückgezogenes
Leben. Viktor glaubt nicht mehr an Gott, seitdem ihr gemeinsamer Sohn Erik im Alter von vier
Jahren ertrunken ist. Er ist gütig und versucht, Eva die Geborgenheit zu geben, nach der sie
sich seit ihrer Kindheit vergeblich sehnt, doch »findet er nicht die richtigen Worte«, wie er dem
Zuschauer gleich in der ersten Szene erzählt. Eva liebt ihren Mann nicht, sie kann, wie sie sagt,
überhaupt nicht lieben; nur Erik hat sie geliebt. Evas Mutter Charlotte Andergast (Ingrid
Bergman) ist eine weltberühmte Pianistin. Nach den Tod ihres Lebensgefährten Leonardo
fühlt sie sich unsicher und einsam, so daß Eva sie zu sich nach Bindal einlädt. Sieben
Jahre haben sich Mutter und Tochter nicht gesehen. Charlotte folgt der Einladung.
Nach der ersten überschwenglich nervösen Freude des Wiedersehens zeigen sich die
ersten Spannungen. Eva eröffnet ihrer Mutter, daß Helena (Lena Nyman), ihre zweite
Tochter, auch im Hause ist. Lena leidet an einer schweren Epilepsie und vegetiert
nur noch lallend vor sich hin. Sie hatte früher einmal eine Beziehung zu Leonardo.
Nur widerwillig setzt sich Charlotte der Begegnung mit der kranken Helena aus,
meistert sie jedoch mit schauspielerischem Bravour. Ihr Entsetzen über
|