- 205 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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erlangt die Exposition noch eine Art von Geschlossenheit und Selbständigkeit. In der Durchführung werden die Themen verarbeitet. Ihre Motive erscheinen wie in einem Konflikt in vielerlei Gestalt. Die Reprise ist das Ziel der vorangegangenen Entwicklung. Sie dient zusammen mit der abschließenden Coda der Konflikt- und Spannungslösung, Haupt- und Seitenthema erklingen in der Grundtonart, die tonalen Gegensätze werden – wenn nicht aufgehoben – doch zumindest gemildert.

Der Konflikt, der bereits durch den Titel der Sonate angedeutet wird, ist Grundbestand der Thematiken des Films. In erster Linie geht es um einen Generationskonflikt. Bergman schildert die Deformiertheit von Gefühlen. Anschaulicher als im Verhältnis zwischen Vater und Sohn läßt sich diese Deformiertheit plastischer denn je am Verhältnis zwischen Mutter und Tochter ermessen, sind es doch die Frauen, die in Bergmans Filmen den Erhalt der Gefühlswelt garantieren4

4 Eckhard Weise: Ingmar Bergman. Reinbek 1997, S. 126.
: »Was mich fasziniert«, so Bergman, »ist, wie sie einander begegnen. Ich habe viele Töchter getroffen, und ihr Verhältnis zu ihren Müttern ähnelt nicht im geringsten dem der Söhne zu ihren Vätern.«5
5 Ingmar Bergman, ohne Quellenangaben, zit. n. Lange-Fuchs 1988, S. 243.
Damit wendet sich Herbstsonate auch gegen jenes Fundament der bürgerlichen Gesellschaft, gegen repressive Erziehungsmethoden in den »ungestörten Isolierzellen der heiligen Familie«6
6 Lange-Fuchs 1988, S. 246.
. Zugleich ist dieser Generationenkonflikt Ausdruck einer Künstlerproblematik. Die Auseinandersetzung des Künstlers mit der Gesellschaft ist hier viel deutlicher in den privaten Bereich der Familie eingedrungen. Dies bedeutet zugleich eine engere Verknüpfung der Künstlerproblematik mit der Thematik der gestörten Kommunikation. Diese wird auch zur eigentlichen Hauptsache des Films, innerhalb derer Charlottes Tätigkeit als Künstlerin als verzweifelter Versuch enttarnt wird, die verlorengegangene Gemeinschaft der Familie durch ihre Karriere zu kompensieren – und dies mit allen traurigen Konsequenzen. Damit hat Bergman seine eigenen Erfahrungen zu einer verallgemeinernden Erkenntnis verarbeitet, denn auch er hat den Gegensatz zwischen schöpferischer Arbeit und Privatleben stets aufs Neue erlebt. So ist es auch kein Zufall, daß er die Töchter Charlottes – Eva und Lena – nach seinen eigenen Kindern benannt hat. Darüber hinaus ist auch ihm das Bild der dominanten Mutter bzw. Großmutter in seiner eigenen Familie nicht fremd, die den Willen des Kindes mit entsprechenden Erziehungsmethoden zu brechen versuchte.7
7 Lange-Fuchs 1988, S. 10.
Wie bereits oben angedeutet, spielt die Musik eine entscheidende Rolle im dramaturgischen Verlauf. So dokumentieren denn auch die Szenen, in denen Chopin und Bach zitiert werden, eine gewisse Chronologie im unerbittlichen Abrechnungsprozeß zwischen Mutter und Tochter. Am ersten gemeinsamen Abend fordert Charlotte ihre Tochter auf, ihr etwas auf dem Flügel vorzuspielen. Obwohl diese sich akribisch darauf vorbereitet hat, verläßt sie sofort der Mut; sie verwandelt sich abrupt wieder in die hilflose Klavierschülerin, die unter den strengen Augen der Lehrerin-Mutter Chopins Prélude Nr. 2 a-Moll vorspielt (vgl. Abbildung 10.1).8
8 Frederic Chopin: Prélude Nr. 2 a-Moll, hrsg. von Ignacy J. Paderewski/Ludwik Bronarski/Józef Turczynski (= Fryderyk Chopin. Sämtliche Werke, Bd. I: Präludien für Klavier). Warschau/Krakau 1949, S. 16.

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