- 202 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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wird hier das Kaspar-Hauser-Thema in ganz ungewohnter Form dargestellt. Dennoch bleibt Gavino bis zum Schluß verbunden mit dem Land seines Vaters. Er fürchtet sich davor, die Macht, die ihm durch seinen sozialen Aufstieg gegeben ist, so einzusetzen wie es sein Vater immer getan hat – es wäre der letzte Sieg des Vaters. Sein einzelnes Schicksal steht jedoch – dem filmischen Prinzip der Tavianis Rechnung tragend – für eine kollektive Erfahrung. Werner Herzog schreibt hierzu: »Im heutigen Film gibt es kaum jemanden [. . . ], der mit Musik so umgehen kann wie die beiden Brüder Taviani, wo die Musik auf einmal ein einzelnes Schicksal und Raum in ein Allgemeines, für eine ganze Landschaft und eine ganze soziale Situation Gültiges ausweitet.«112
112 Werner Herzog 1978, zit. n. Michael Töteberg: »Padre Padrone.« In: Töteberg 1995, S. 446.
Wie besonders diese Kompositionen von Mozart und Strauß immer wieder ihre filmische Abnutzung erfahren haben, so unverbindlich fällt auch das dramaturgische Etikett aus. Beide Werke garantieren einen hohen Wiedererkennungswert. Insofern ist ihre Realisierung im Film zwar überlegt aufgrund der absoluten Divergenz zwischen Handlungsort und Musik, doch ist die Auswahl der Werke zugleich recht plakativ. In dieser Hinsicht reihen sich Strauß und Mozart auch mit diesem Film in die lange Reihe ihrer filmischen Anwendung. Daraus ergibt sich: ist die Frage nach einem neuen dramaturgischen Etikett in diesem Falle wichtig? Nein. Die Häufigkeit, mit der Mozarts Adagio oder der Fledermaus -Walzer von Strauß im Film erklingen, vereitelt eine solche Fragestellung von sich aus. Doch damit entsprechen die Tavianis ihrer dramaturgischen Intention: ein Zitat erfährt meist eine eklatante Neusemantisierung, wenn es an einen der Charaktere gekoppelt ist. Gavinos Geschichte hingegen entspricht einer kollektiven Erfahrung. »Diese Geschichte ist nicht nur meine Geschichte«, so resümiert auch Ledda am Ende des Films. So erklingt zu den abschließenden Großaufnahmen der Kinder in der Volksschule ein letztes Mal der von Akkordeon und Orchester intonierte Strauß-Walzer, der die Worte des Vaters bestätigt: »Heute hat es Gavino getroffen, morgen wird es euch treffen«. Bedeuteten diese Worte anfangs noch eine Drohung, so wirken sie nun wie eine Verheißung:113
113 Töteberg 1995, S. 446.
Der Weg Gavinos ist ein Beispiel, daß eine Befreiung aus generationenlanger Unterdrückung möglich ist. Insofern stehen auch Mozart und Strauß für eine kollektive Erkenntnis, die eine mögliche Neusemantisierung eher latent erscheinen läßt.


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