- 201 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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auf die Weite des steinigen Tales mischt sich eine geruhsame, pastorale Flötenmelodie in das Walzermotiv. Die Themen repräsentieren zwei verschiedene Welten: auf der einen Seite steht das Walzerthema, das Gavino eine noch unbekannte Welt außerhalb des väterlichen Regiments suggeriert, auf der anderen Seite ertönt das pastorale Flötenthema, das die Gegenwart charakterisiert. Beide reiben sich aneinander – wie Gavino und sein Vater. Was durch die Musik antizipiert wird, faßt der Patriarch kurz darauf in Worte: »Gavino entgleitet mir, das fühle ich. Und es gelingt mir nicht, einen Weg zu finden, um ihn zurückzuholen. [. . . ] Vielleicht bin ich gar nicht so klug wie ich immer geglaubt habe. Ich muß mich anstrengen. . . «

Das selbstgebaute Radio wird zum plakativsten Zeichen des Widerstandes. Der Fledermaus -Walzer, der aus den Lautsprechern schallt, markiert einen ersten Triumph Gavinos. Der fröhliche Auftakt paraphrasiert seine seelische Verfassung. Als solche ist die Musik nicht länger dramaturgischer Kontrapunkt, sie fungiert vielmehr psychologisch affizierend. Doch nun kommt ein neuer musikalischer Charakter hinzu. Nach dem Sturm des Triumphes folgt die Ruhe der psychologischen Besinnung. Das beseelte Adagio aus Mozarts Klarinettenkonzert, das den haßerfüllten Vater auf seinem Weg nach Hause begleitet, markiert seine im Grunde tiefe Resignation, seine Trauer über den Verlust seiner Allmacht. Die zunächst paraphrasierende Funktion des Adagios wandelt sich daraufhin zu einem dramaturgischen Kontrapunkt, denn sie konterkariert die zum Zerreißen gespannte Feindseligkeit zwischen Vater und Sohn. In der kahlen, ärmlich eingerichteten Küche der Familie wirkt das Radio wie der Einzug der kultivierten Zivilisation schlechthin, die durch die feinfühlige Melancholie des Adagios noch verstärkt wird. Dagegen erscheinen die Drohgebärden des Vaters grobschlächtig und ungeschliffen, der durch einen polternden Handschlag auf die Tischplatte nach seinem Essen verlangt. In dieser Szene spitzt sich der Konflikt zu. Der Vater droht Gavino, »ihn fürs Leben zu entstellen«, wenn er das Radio nicht ausstellt. Gavino reagiert, indem er den Ton lauter dreht. Daraufhin eskaliert die Situation, Vater und Sohn prügeln sich, wobei Gavino seinen Vater mit Nachdruck in die Knie zwingt. Man könnte sich keinen größere Dissonanz vorstellen als eine handfeste Prügelei zu den zarten Klängen des Adagios: die Regie treibt die Fehde zwischen Vater und Sohn seinem Höhepunkt entgegen, aus dem Gavino letztlich als Sieger hervorgeht. Selbst, als der Vater in seiner Hilflosigkeit das Radio – für ihn Sinnbild des Widerstandes und der sozialen Unterschiede – im Wasserbottich versenkt, pfeift Gavino mit starrem Blick das Thema des Adagios weiter. Die Musik wird zum Träger seines physischen wie psychischen Widerstandes gegen den strafenden Zorn des Vaters. Dies ist sein erster entscheidender Sieg über den Padrone.

Mit Mozart und Strauß wenden die Regisseure einen ästhetischen Kunstgriff an. In der Entwicklung Gavinos markiert ihre Musik den Anfang einer inneren wie äußeren Sozialisation des Protagonisten: aus dem sprachlosen Schafhirten wird ein Professor für Linguistik. Als solche fungiert sie auch in diesem ethnographischen Film als sozialer Index, sie demonstriert die Macht des Wissens, die hier in Form einer naturalistischen Erzählung offenbart wird. Die Musik ist es, die Gavino aus der versklavenden Bildungslosigkeit und damit aus der Abhängigkeit vom eisernen Diktat des tyrannischen Vater befreit. Sie ermöglicht ihm den sozialen Aufstieg in eine zivilisierte und kultivierte Welt, in der sein Vater nicht länger sein Herr ist. Insofern


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