- 200 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Glockenschläge durchsetzt ist, die die Angst des Jungen vor der Einsamkeit und der dunklen Nacht charakterisieren. Das zweite wichtige Inszenierungsprinzip des Films liegt in eklatanten Stilbrüchen.111
111 Wulff 1995, S. 439.
So bilden die Walzerfetzen aus der Fledermaus und Mozarts Adagio bedeutende Gegenstimmen zu jenem allgegenwärtigen Geräuschteppich. Bezeichnenderweise setzen diese erste ein, als Gavino erwachsen ist. Denn erst dann beginnt er, sich gegen den drohenden Schatten seines Vaters aufzulehnen.

Der Fledermaus -Walzer wird erstmals recht effektvoll eingesetzt. In der unwirtlichen, öden Landschaft Sardiniens erklingen plötzlich entfernte Klänge jenes sprühenden Violinenwirbels des Walzerauftaktes, die aus dem Nichts zu kommen scheinen. Die musikalische Weite des vollen halligen Orchesterklanges entspricht der Weite der Landschaft, in der Gavino die Musikquelle zunächst nicht orten kann. Erst nach einem Schwenk erfaßt die Kamera zwei Gestalten. Einer der zwei Burschen spielt auf einem Akkordeon, dessen Klang sich sogleich in den Orchestersatz mischt. Die musikalische Weite verengt sich zumindest teilweise zu einem bildangepaßten Raum. Durch die Intonation des Akkordeons erhält der Wiener Walzer einen volkstümlichen Charakter, der jedoch auch weiterhin reich orchestriert wird. Mit dem Zitat verfahren die Regisseure geradezu nach der »Holzhammermethode«. Der Wiener Schmäh dieses feurigen Walzers suggeriert einen schimmernden Ballsaal, in dem sich rauschende Röcke im 3/4-Takt drehen. Der Ort der Musik, den der Zuschauer hier zu sehen bekommt, ist eine steinige, menschenleere Landschaft – dokumentarisch fotographiert: Strauß paßt eindeutig nicht hierher; die Bewegung des Walzers widerspricht der Ruhe Sardiniens. Darin liegt eine mögliche Erklärung für die »Banalität« der Musikauswahl: um einen exakten musikalischen Kontrapunkt zu jener patriarchalischen Tonwelt des Films herzustellen, bedarf es eines bekannten Zitates, das schnell als solches erkennbar wird. Zudem muß sein Klang eine verstörende Dissonanz zur visuellen Ebene erzeugen – der Fledermaus -Walzer erfüllt beide Kriterien. Damit begeht die Regie einen unüberhörbaren Stilbruch. Auch die Kadenz, die der Junge Gavino auf dem Instrument vorspielt, wirkt utopisch, geradezu aufdringlich. Aus der Divergenz zwischen Walzer und sardinischer Wildnis entsteht eine dramaturgische Funktion. Der Walzer – wie auch später Mozarts Adagio – steht für das »total Andere«. Als solche ist die Musik also denotativ, begrifflich faßbar (Maas). Die Weite des orchestralen Klanges – im Bild durch die Weite des sardinischen Horizonts suggeriert – ist ein Symbol für den geistigen Horizont Gavinos, der bis dahin die Musik nie gekannt hat. Er beginnt zu ahnen, daß es noch eine »andere« Welt gibt. Indem er den Jungen eine Ziehharmonika abhandelt, demonstriert er einen bis dahin nie gekannten Freiheitsdrang, der einen langen Emanzipationsprozeß gegenüber seinem Vater und damit gegenüber einer ganzen Tradition einleitet. Die Totalität einander widersprechender Welten präsentiert sich in der folgenden Szene: im Schlaf brabbelt Gavino vom »Ziehharmonikaspielen«, der Vater ist verunsichert. Während die Kamera auf ihm verweilt, platzt plötzlich der wirbelnde Fledermaus -Walzer aus dem off in die Stille. Die Loslösung geht jedoch in kleinen Schritten voran. Auf der musikalischen Ebene findet sich das Pendant: in einer der folgenden Szenen intoniert Gavino einen noch schleppenden Walzertakt. Langsam spielt er die Einleitung des Strauß-Walzers; mit dem Kameraschwenk


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