- 199 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Pollack, 1985) bildet das Adagio aus Mozarts Klarinettenkonzert eine harmonische Klangfolie, die jedoch austauschbar ist. Auch der Fledermaus -Walzer wird gerne eingesetzt, wenn es gilt, eine rauschende Ballatmosphäre zu untermalen. Das bedeutet: will eine Musik, die bereits einem permanenten »filmischen Verschleiß« unterliegt, innerhalb einer Dramaturgie noch eine Semantik offenbaren, so muß sie entsprechend wirkungsvoll eingesetzt werden. Und dies ist hier durchaus der Fall: weder Mozart noch Strauß »passen nach Sardinien«. Die Authentizität des Films Mein Vater, mein Herr prallt immer wieder mit der musikalischen Dramaturgie zusammen.

Gleich zu Beginn weisen die Regisseure auf den authentischen Charakter der filmischen Erzählung hin: Gavino Ledda, der Autor der literarischen Vorlage, versichert vor der Kamera, der nun folgende Film erzähle seine Lebensgeschichte. Daraufhin übergibt er einem Mann mit einem Gesicht wie aus Granit (Omero Antonutti) einen Ast, aus dem er einen Stecken geschnitten hat. Dieser betritt das Klassenzimmer der örtlichen Grundschule und holt seinen Sohn Gavino (Fabrizio Forte) zurück. Der Junge wird für ihn als Hirte in den sardinischen Bergen arbeiten. Die Pflicht der Armut zwinge ihn dazu, damit ist er Vater und Herr des Jungen. Die Familie hat der Patriarch zu einem Teil seines Besitzes erklärt, den er mit aller Gewalt verteidigt – jeder Widerstand muß gebrochen werden. Die Erziehung, die er Gavino angedeihen läßt, gleicht dementsprechend eher einer grausamen Abrichtung: trotz aller Angst und Einsamkeit muß der Junge nachts allein bei den Schafen in den Bergen bleiben. Sobald er seinen Platz verläßt, wird er vom Vater brutal verprügelt. Die Mutter hat den Jungen gewarnt: »Die Stille ist furchtbar laut.« Gavino, ganz auf sich allein gestellt, lernt die Sprache der Natur: die Geräusche des Tagesanbruchs, das Plätschern des Flusses, die Launen der Tiere. Dabei verlernt er die Sprache der Menschen, die Einsamkeit läßt ihn verstummen. Es folgt ein Zeitsprung: Gavino (Saverio Marioni) ist zwanzig Jahre alt. Noch immer hütet er Schafe. Eines Tages tauchen zwei Burschen mit einem Akkordeon auf, die sich in der sardinischen Einöde verirrt haben. Gavino ist fasziniert von ihrer Musik, dem Fledermaus -Walzer. Er handelt ihnen ein Akkordeon ab. Damit beginnt sein Widerstand gegen den Patron. Als eine Frostkatastrophe den Olivenhain vernichtet, von dem sich die Familie ein wenig Wohlstand erhofft hatte, soll Gavino zum Militär gehen. Damit ist er dem unmittelbaren Einfluß des Vaters entzogen. Hier lernt er, der bisher nur den sardinischen Dialekt kannte, erstmals Italienisch. Unter großen Anstrengungen eignet er sich weitere Kenntnisse an und macht das Abitur. Er beschließt, Linguist zu werden. Der Konflikt mit dem Vater spitzt sich zu, doch die Emanzipation des Sohnes ist nicht mehr aufzuhalten - der Vater hat die Macht über Gavino endgültig verloren. Gavino hat inzwischen über sardinische Dialekte promoviert und seine Autobiographie geschrieben.

Subjektive Erfahrung, die immer wieder ins Kollektive überführt wird – das ist eines der zentralen Inszenierungsprinzipien des Films. Dabei nutzen die Gebrüder Taviani vor allem die poetischen Möglichkeiten des Tons.110

110 Hans Jürgen Wulff: »Mein Vater, mein Herr.« In: Koebner 1995, S. 438.
Die einzelne Stimme wird stets in ein Konzert anderer Stimmen eingebettet. Berühmt ist hierbei besonders die bukolische Szene, in der Gavino in einem Anfall von perverser Sodomie seine Rache an einem Schaf übt; alle anderen Hirten und sogar Gavinos Vater stimmen in einen Chor lustvollen Stöhnens ein. Die bedrückende Stille der Berge wird gleich zu Beginn als subjektive Tonerfahrung Gavinos eingeführt: der Wind, der sich in den Bäumen bricht, die Laute der Tiere, subjektiv verschwimmende Stimmen. Es ist das Zwangssystem der väterlichen Tonwelt, die kontinuierlich durch tiefe drohende

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