- 198 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Knacks. Die letzten Szenen in der freien Natur zeigen dies sehr deutlich. Doch reichen diese unterschwelligen Hinweise nicht aus, um das Zitat semantisch neu aufzuladen. Der ambivalente Tenor des gesamten Films ist überall zu spüren. Zu subtil sind die psychologischen Befindlichkeiten der Figuren; ihre Wunschprojektionen sind allzu versteckt, nicht auf Anhieb durchschaubar. Die ruhige Dialektik, mit der Malle das Thema bearbeitet, findet ihr Pendant in einem objektiven distanzierten Filmstil. Keine schwindelerregenden Zooms, rasante Schnittfolgen oder in Zeitlupe spritzendes Blut – alles, was heute im kommerziellen Film durch seine temporeiche Eindringlichkeit auch die Musik schnell in einem anderen fremden Licht erscheinen läßt. Im Gegenteil: Malle ist ein Vertreter des humanen Kinos.108
108 Vinzenz B. Burg: »Wider alle Moden. Fragment über Louis Malle.« In: Hans Günther Pflaum (Hrsg.): Jahrbuch Film 84/85. München 1984, S. 83.
Die Kamera wird zum investigativen Instrument. Die Handlung scheint sich von ganz allein zu erzählen. Als solche ist sie daher viel zu ambivalent, um auch gegenüber der Musik eindeutig Stellung zu beziehen. Es ist nicht ungewöhnlich, daß sein Protagonist ein Jugendlicher ist – er ist geradezu prädestiniert, um jene Zwiespältigkeit zu reflektieren. Lucien hat seine Persönlichkeit noch nicht gefunden, sein Sinn für Moral, Politik oder Sprache ist noch nicht erkennbar. Er wirkt weder ungemein sympathisch noch ist man geneigt, ihn unbedingt zu verdammen. Zu groß ist die Naivität, mit der er die Geschehnisse auf sich einstürmen läßt. Sein Charakter entspricht dem berühmten Satz von Hannah Ahrendt über die »Banalität des Bösen«.109
109 Christa Maerker: »Interview.« In: Jansen/Schütte 1985, S. 57.
Geradezu rührend ist sein Bemühen, von der Familie Horn anerkannt zu werden. Daher kann selbst Horn keinen Haß, sondern höchstens Mitleid mit ihm empfinden. Indem Malle vor dem Hintergrund der Kollaboration ein individuelles Psychogramm sachlich nachzeichnet, garantiert er eine gewisse Authentizität, die er geradezu dokumentarisch realistisch aufarbeitet. Damit nutzt er lediglich die semantische Konnotation der Musik, um sie für seine Zwecke zu verwenden, doch hütet er sich vor einem unverrückbaren abschließenden Urteil, das zwangsläufig auch der Musik einen dramaturgischen Stempel aufdrücken würde. Er ist neutral und bleibt beim Experiment, er wagt jedoch keine Synthese.

9.5.  Exkurs: Paolo und Vittorio Taviani: Mein Vater, mein Herr

Die Musik als subtiles Kunstmittel, das die Rolle eines sozialen Indexes übernimmt – das ist auch der Tenor in dem Film Mein Vater, mein Herr der Gebrüder Paolo und Vittorio Taviani aus dem Jahre 1977. Aber im Gegensatz zu Malles Film ist der Ton hier weitaus subjektiver. Während die gepflegte Klaviermusik in Lacombe, Lucien an sich bereits mit dem Etikett bürgerlich-gebildeter Kulturbeflissenheit behaftet ist, fiel die Zitatauswahl in dem italienischen Streifen auf zwei Werke, die aus heutiger Sicht in ihrem Etikettenvorrat weitaus unspezifischer sind, da sie immer wieder in Filmen der unterschiedlichsten Genres zitiert werden: das Adagio aus Mozarts Konzert für Klarinette A-Dur KV 622 und der Ouvertürenwalzer der Fledermaus von Johann Strauß. In Filmen wie Jenseits von Afrika (Sydney


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