Knacks. Die
letzten Szenen in der freien Natur zeigen dies sehr deutlich. Doch reichen diese
unterschwelligen Hinweise nicht aus, um das Zitat semantisch neu aufzuladen. Der
ambivalente Tenor des gesamten Films ist überall zu spüren. Zu subtil sind
die psychologischen Befindlichkeiten der Figuren; ihre Wunschprojektionen
sind allzu versteckt, nicht auf Anhieb durchschaubar. Die ruhige Dialektik,
mit der Malle das Thema bearbeitet, findet ihr Pendant in einem objektiven
distanzierten Filmstil. Keine schwindelerregenden Zooms, rasante Schnittfolgen oder
in Zeitlupe spritzendes Blut – alles, was heute im kommerziellen Film durch
seine temporeiche Eindringlichkeit auch die Musik schnell in einem anderen
fremden Licht erscheinen läßt. Im Gegenteil: Malle ist ein Vertreter des humanen
Kinos.108
108 Vinzenz B. Burg: »Wider alle Moden. Fragment über Louis Malle.« In: Hans Günther
Pflaum (Hrsg.): Jahrbuch Film 84/85. München 1984, S. 83.
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Die Kamera wird zum investigativen Instrument. Die Handlung scheint sich von ganz
allein zu erzählen. Als solche ist sie daher viel zu ambivalent, um auch gegenüber der
Musik eindeutig Stellung zu beziehen. Es ist nicht ungewöhnlich, daß sein Protagonist
ein Jugendlicher ist – er ist geradezu prädestiniert, um jene Zwiespältigkeit zu
reflektieren. Lucien hat seine Persönlichkeit noch nicht gefunden, sein Sinn für
Moral, Politik oder Sprache ist noch nicht erkennbar. Er wirkt weder ungemein
sympathisch noch ist man geneigt, ihn unbedingt zu verdammen. Zu groß ist die
Naivität, mit der er die Geschehnisse auf sich einstürmen läßt. Sein Charakter
entspricht dem berühmten Satz von Hannah Ahrendt über die »Banalität des
Bösen«.109
109 Christa Maerker: »Interview.« In: Jansen/Schütte 1985, S. 57.
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Geradezu rührend ist sein Bemühen, von der Familie Horn anerkannt zu werden. Daher
kann selbst Horn keinen Haß, sondern höchstens Mitleid mit ihm empfinden. Indem
Malle vor dem Hintergrund der Kollaboration ein individuelles Psychogramm sachlich
nachzeichnet, garantiert er eine gewisse Authentizität, die er geradezu dokumentarisch
realistisch aufarbeitet. Damit nutzt er lediglich die semantische Konnotation der Musik,
um sie für seine Zwecke zu verwenden, doch hütet er sich vor einem unverrückbaren
abschließenden Urteil, das zwangsläufig auch der Musik einen dramaturgischen Stempel
aufdrücken würde. Er ist neutral und bleibt beim Experiment, er wagt jedoch keine
Synthese.
9.5. Exkurs: Paolo und Vittorio Taviani: Mein Vater, mein Herr
Die Musik als subtiles Kunstmittel, das die Rolle eines sozialen Indexes übernimmt – das
ist auch der Tenor in dem Film Mein Vater, mein Herr der Gebrüder Paolo und Vittorio
Taviani aus dem Jahre 1977. Aber im Gegensatz zu Malles Film ist der Ton hier
weitaus subjektiver. Während die gepflegte Klaviermusik in Lacombe, Lucien an
sich bereits mit dem Etikett bürgerlich-gebildeter Kulturbeflissenheit behaftet
ist, fiel die Zitatauswahl in dem italienischen Streifen auf zwei Werke, die aus
heutiger Sicht in ihrem Etikettenvorrat weitaus unspezifischer sind, da sie immer
wieder in Filmen der unterschiedlichsten Genres zitiert werden: das Adagio aus
Mozarts Konzert für Klarinette A-Dur KV 622 und der Ouvertürenwalzer der
Fledermaus von Johann Strauß. In Filmen wie Jenseits von Afrika (Sydney
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