- 188 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (187)Nächste Seite (189) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

des Antichristen Raum. Es ist wiederum eine der Ironien des Films, daß die Teufelsanbeter nicht etwa Hippies und Drogenapostel – Anhänger der jungen Generation – sind, sondern eine Versammlung gesetzter älterer Herrschaften, die Rosemarie als Vertreterin der jungen Generation aus ihrer Idylle herausreißen und in Gestalt des Antichristen mit der Realität konfrontieren.

In der Wende von der aus der Perspektive Rosemaries zunächst subjektiven Erfahrung des Bösen zu einer objektiven, »realen« Verkörperung durch das entstellte Kind in der Wiege liegt der Ursprung des neueren Teufelsfilms, der sich durch eine auf Griffweite reduzierte Entfernung des Handlungsortes vom Rezipienten auszeichnet – die gezeigte Welt ist unser Alltagsleben. Damit flechtet Polanski ebenso den entstehungsgeschichtlichen Aspekt seiner eigenen Erfahrung ein – das Übel ist für ihn ein Bestandteil der menschlichen Existenz. Auch in Filmen wie Der Exorzist oder Poltergeist wurde der Teufel wieder höchst real. Das Böse, die Versuchung, die Ursache der Angst ist in Wirklichkeit der »American Way of Life« mit dem Fernsehen als seinem Kern. Das Teuflische ist nicht familien- oder subjektspezifisch, sondern liegt in den Strukturen der Gesellschaft. Die neueren Teufelsfilme setzen der konsumorientierten Welt das okkulte Medium gegenüber. Mit dieser Art von Horror als groteske Seite der Realität, so argumentiert Jung, hat das Horrorgenre auch zugleich seinen Endpunkt erreicht. Wo sich – wie in Rosemaries Baby – aus der Tiefe vorchristlicher Mythologien heraufgeholte Visionen des Genres mit christlichen Vorstellungen treffen, das wird das Genre plötzlich erschreckend realistisch. Die Logik des Films, so Visarius, mündet in der Anerkennung einer »irrationalen Wirklichkeit«. Man gelangt zu dem Resultat, daß eine phantastische Deutung der Geschichte die plausibelste und eine rationale selbst phantastisch wäre. Polanski liefert Hinweise auf beide Ebenen, die Entscheidung darüber obliegt letztlich dem Zuschauer.

Eine Erklärung für die im Grunde fehlende Neusemantisierung des Stückes liegt in seiner langen und intensiven Rezeptionsgeschichte. Beethovens Für Elise ist auch heute noch eines der populärsten, wenn nicht das beliebteste Klavierstück Beethovens. Eine filmische Dramaturgie ist nicht mehr in der Lage, in eine solche Rezeptionsgeschichte einzugreifen, das Etikett des abgesunkenen Salonstückes bleibt an ihm haften, der Etikettenvorrat filmischer Fiktion dürfte an dem Rezeptionsbewußtsein des Hörers scheitern. Das Klavier ist heute noch immer ein beliebtes Instrument sowohl bei Komponisten als auch beim Publikum. Zwar ging die »Hoch-Zeit« des Klaviers mit dem Ersten Weltkrieg zu Ende, doch schmückt es auch heute noch Wohnungen wie Konzertsäle. Insofern steht es noch immer für eine gewisse Seriosität: als Symbol für Bildung scheint es rehabilitiert zu sein, als Symbol für Wohlstand gilt es nur noch bedingt.90

90 Sabin 1998, S. 93.
Doch liegt darin möglicherweise die Erklärung für die anhaltende Popularität des Beethoven-Stückes: seine elegische Stimmung, die vergleichsweise einfache Spielbarkeit und die emphatischen Ausholmöglichkeiten gaukeln dem Klavierschüler noch immer einen Hauch von Virtuosität vor, die zu alledem in den oft zerhackten Klangcollagen moderner Kompositionen nicht mehr möglich ist. So wie sich dieser Schwindel auf der Ebene der technischen Bewältigung vollzieht, so wirkt er auch auf der Bewußtseinsebene. Das Stück verbreitet auch heute noch einen Hauch von nostalgischer Saloneleganz der gehobenen Schicht im Deckmantel pseudo-elitärer Kunst, die in einer dem Konsum zugewandten Welt ausgestorben ist. Daß das Stück auch heute noch so populär ist, könnte ein Index für eine Art bewußt gewollten eskapistischen »Rückzug in eine neue alte Innerlichkeit« in einer entfremdeten, leistungsorientierten Konsumgesellschaft sein,

Erste Seite (i) Vorherige Seite (187)Nächste Seite (189) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 188 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik