- 187 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Schmidt weiter, läßt sich auch nachweisen, daß Für Elise und die anderen musikalischen Gestalten des Films, ebenso miteinander zusammenhängen, obwohl sie auf den ersten Blick keinerlei Gemeinsamkeiten aufweisen. Indem jene visionäre Musik und Für Elise sich mit fortschreitender Handlung stetig abwechseln, wird suggeriert, wie sehr auch auf der musikalischen Ebene Imagination und Realität miteinander verzahnt sind, und zwar in der gleichen Weise, wie die filmische Handlung den Einbruch des Irrealen in die reale Welt darstellt. Damit findet die filmische Konstruktion in der musikalischen Gestalt des Films ihr Äquivalent. Realität und Irrealität – Gott und Teufel tauschen die Rollen, der Film endet in Umkehrung des Mythos von der Unbefleckten Empfängnis mit der Wiedergeburt des Satans. Noch in der Verkehrung bewahren die Riten der Satanisten mehr an christlich-religiöser Substanz als die Lippenbekenntnisse des Durchschnittsamerikaners. Unter soziologischem Gesichtspunkt erscheint auch dieser Teufelsglaube wie eine pervertierte Spielart jenes religiösen Fundamentalismus, der in einer säkularisierten Gesellschaft mit ihren Fetischen des Konsums breiten Anklang findet. Der Teufel, dessen Wiederkehr von dem Oberhaupt der Teufelsgemeinde, Roman Castavet, hymnisch begrüßt wird, ist ein Teufel der Auflehnung und der Revolte: »Er wird die Mächtigen besiegen und ihre Tempel zerstören, retten wird er die Verachteten und Rache üben im Namen der Gefolterten.« Damit präsentieren sich Roman und die anderen als jene Protestsatanisten, die in den sechziger Jahren gegen Gott rebellierten. Sie gingen davon aus, daß er hinter allen beengenden Autoritäten steht und ihre Macht schützt. Aus diesem Grunde identifizierten sie sich mit Satan, der als Widersacher Gottes schlechthin galt.87
87 Wenisch 1988, S. 65.
Der zunächst vermißte zeitgenössische Bezug des Films im New Yorker Alltag der Figuren taucht also erst hier – in der pervertierten Seite der Realität – auf. Der Teufel wird zu einem Symbol der Befreiung von moralischen und gesellschaftlichen Zwängen, wie er in diesen Jahren auch etwa in den Songs der Rolling Stones erscheint (Their Satanic Majesties Request, Sympathy for the Devil88
88 Drexler 1995, S. 279.
). Der Riß, durch den das Grauen in den New Yorker Alltag hereinkriecht, setzt die prinzipielle Brüchigkeit dieser Welt voraus. Damit leistet Polanski jenen zeitgenössischen Kommentar Bezug, den seine Figuren vermissen lassen.

Das amerikanische Bewußtsein befindet sich in den sechziger Jahren in einer Identitätskrise. Die Angst der Jugend vor dem Erwachsenwerden und der Rückfall in infantiles bzw. regressives Verhalten – wie beispielsweise im Exorzisten dargestellt – verweist auf eine Ich-Schwäche, die auch auf die ausgehenden sechziger Jahre zurückgehen dürfte. Man befand sich in einer Zeit der Kluft zwischen den Generationen, der Autoritätskrise, in der die Älteren bei den Jüngeren ihre Glaubwürdigkeit verloren hatten: »Lieber Kind bleiben als so werden wie unsere Eltern.« Neue Autoritäten oder Vorbilder für diese vaterlose Generation waren nicht in Sicht. Stattdessen begann ein Prozeß der Selbstfindung und Selbstbestimmung. Auch die Angst vor der Macht, dem Schicksal verweist auf reale Herrschaftsverhältnisse, wie sie seit den frühen siebziger Jahren weltweit öffentlich gemacht wurden. Hier sind vor allem der Watergate-Skandal zu nennen (1972), der die Politik als kriminellen Sumpf entlarvte, oder der Vietnamkrieg, der 1973 mit einer Niederlage der USA endete.89

89 Werner Faulstich: »Antichrist, Besessenheit und Satansspuk. Zur Typologie und Funktion des neueren Teuelsfilms.« Faust und Satan 66 (1987) 112–114.
Das Vertrauen in die als korrupt geltenden, machthungrigen und unfähig geltenden Politiker war erschöpft und gab – beginnend mit Rosemaries Baby – der Figur

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