- 186 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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dieser dramaturgischen Phase den entscheidenden Bezugspunkt. In dieser Hinsicht erfüllt Für Elise eine psychologische Funktion.

Die Musik ist ebenso strukturierend, da sie mehr oder weniger als »Reizhintergrund« die Gestalten der Leinwand konturiert. In dieser Welt gibt es keine Veränderungen, das Stück demonstriert einen sozialen Entwicklungsstillstand. Im 20. Jahrhundert hat das Klavier als weibliches Accessoire endgültig ausgedient: in dem Maße wie andere Merkmale der weiblichen Selbstdarstellung besonders in den sechziger Jahren eine Rolle zu spielen begannen, verlor das Klavier immer mehr an Bedeutung. Am Klavier sitzend wirkt die Frau im 20. Jahrhundert zwar noch immer wie vor hundert Jahren: sittsam, anmutig und elegant – nur, daß es darauf nicht mehr ankommt. Musikalisch gesehen befinden wir uns in den sechziger Jahren sogar in einer Epoche, in der man das Klavier vom Sockel der Tonalität endgültig heruntergeholt hat. Es ist eine Zeit, in der man den Klavierdeckel als Schlußsforzato benutzt, in der man über die Tastatur hinweg direkt in die Saiten grapscht. Erz-Avantgardisten wie John Cage nehmen das Klavier erst recht nicht für voll. Er behängt es wie einen Weihnachtsbaum mit Schrauben, Radiergummis, Eierlöffeln, Holzstücken u.ä. und trimmt es zum »prepared piano« – ein bewußter Affront gegen das 19. Jahrhundert wie auch eine Expedition in das unbekannte Klangreich. Berücksichtigt man also die moderne Musiklandschaft in den sechziger Jahren, so wirkt jene abgenutzte Salonklimperei in Rosemaries Nachbarwohnung mehr als antiquiert. Die Gesellschaft, die diese Musik für sich in Anspruch nimmt, ist obsolet, gesunken, genauso wie Beethovens Klavierstück. Die Tatsache, daß ein ganz offensichtlich unbegabtes Kind nur noch seine Finger daran schult, präsentiert ein Stück musikalische Rezeptionsgeschichte. Entscheidend ist hier nicht der künstlerische Wert oder Unwert des Stückes, sondern der Rang, den es im Bewußtsein heutiger Hörer eingenommen hat. Kunstwerke sind, wie Helga de la Motte-Haber anmerkt, sterblich. Die Tatsache, daß eine im Grunde obsolete Gesellschaft das Stück für sich in Anspruch nimmt, präsentiert es als ein gesunkenes und geschändetes Kulturgut, ohne daß seine Abnutzungserscheinungen durch die visuelle Ebene ausgewiesen werden. Doch handelt es sich hier nicht um eine tatsächliche Neusemantisierung. Das Klavierstück ist bereits, bevor es im Film erklingt, Bestandteil eines kulturellen Schrottplatzes, auf dem sich der Glanz einer vergangenen Kunstepoche spiegelt.85

85 Schmidt 1976b, S. 269.
Insofern ist der Stellenwert, den es in dieser Gesellschaft einnimmt, mehr als fragwürdig. Der Film greift diese Rezeptionshaltung, die für sich selbst steht, lediglich auf und nutzt sie für seine Zwecke, er greift jedoch nicht ein.

Spinnt man den Faden des sozialen Indexes weiter, so gelangt man zu Polanskis eigentlicher filmischer Aussage. Indem Beethovens Stück dieser ambivalenten, dubiosen Geschichte ein Stück Alltag – Realität, Normalität – verleiht, charakterisiert Polanski eine Gesellschaft, die allmählich tatsächlich pervertiert. Damit kommt die dogmatische Realitätsebene des christlichen Glaubens und die magische des Satanismus ins Spiel. Polanski setzt eine Welt ins Bild, die der Zuschauer trotz aller Ungereimtheiten dennoch als eine verzerrte Seite der Realität wahrnimmt. Der Einbruch des »Außerirdischen« in diese bürgerliche Idylle wird so dargestellt, daß Wirklichkeit und Irrealität eine nicht trennbare Einheit ergeben.86

86 Schmidt 1976b, S. 250; vgl. auch Polanski 1984, S. 224.
Damit, so argumentiert

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