- 185 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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wird, driftet im profanen New Yorker Alltag vorbei. Lediglich angedeutet wird allein die Krise des religiösen Bewußtsein: »Is God Dead?« fragt das Titelblatt des Time-Magazins. Nein, die Woodhouses führen in ihrem alten Bramford-Haus ein geradezu verstörend bürgerliches Dasein: Möbel und Kleider wie es sich gehört, sie Hausfrau und werdende Mutter, er Ernährer und Tyrann in einer Person – eine klassisch bürgerliche Konstellation des 19. Jahrhunderts, in die sich das Salonstück Für Elise nahtlos einfügt. Eine »besondere Party« wünscht sich Rosemarie denn auch als verzweifeltes Aufbegehren gegen die aufdringliche Umarmung der Castavets – »nur für Leute unter 60«; Rosemaries Umgang im Bramford-Haus entspricht nicht gerade dem Klischeebild des Künstlerhaushaltes Mitte der sechziger Jahre.

Doch mit zunehmender Handlungsdichte tritt die subjektiv-psychologische Realität Rosemaries ins Spiel, damit einhergehend die psychologische Funktion der Musik. Aus zahlreichen, meist unauffälligen Details, aber auch aus einzelnen Schockmomenten entsteht langsam das Muster eines Verdachts, der die behagliche Banalität dieses Lebens als Trug entlarvt. Aus der Perspektive des Zuschauers bleibt Rosemarie viel zu lange in ihrer naiven Arglosigkeit befangen. Für Elise mutiert parallel zum dichter werdenden Handlungsgewebe zu einem kommentierenden Kontrapunkt, der die heile Fassade der hier charakterisierten Gesellschaft bröckeln und Rosemaries zunehmend auswegloser erscheinen läßt. Eine Entwicklung, die Polanski auch durch seine Kameraführung aufzeichnet. Die Kadrierung der Einstellungen folgt einer Strategie, die dem natürlichen Blick und dem Realismus der Details auffallend zuwiderläuft. Dem Illusionismus entspräche die Kameraeinstellung in Augenhöhe. Polanski aber wählt in der Regel leichte Auf- und Untersichten, kippt, was durch die Weitwinkelperspektive noch verstärkt wird, die Raumachse aus der Horizontalen und verleiht damit den Räumen eine irritierende Instabilität. Zudem erfaßt die Kamera die Figuren oft so nah, daß sie zu körperlosen Teilsilhouetten reduziert werden – dieser Blick läßt sich keinem menschlichen Auge zuordnen. Damit erhält die Vertrautheit des Sichtbaren von Anfang an ein Moment der Zweideutigkeit, die Wahrnehmung findet keinen eindeutigen Fokus. Diese Verstörtheit, so Kinder und Houston83

83 Marsha Kinder/Beverle Houston: Close Up. A Critical Perspective on Film. New York/Chicago u.a. 1972, S. 306–313.
, vollzieht sich auch auf der Farbenebene: Minnies grelle Aufmachung will zu der schlichten von Rosemarie genausowenig passen wie die lichten Farben der Woodhouse-Wohnung zu den Burgunder- und Brauntönen bei den Castavets. Diese omnipräsente visuelle Disharmonie entspricht der Verstörung der Alltagsvernunft. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß Minnies nervtötende Geschwätzigkeit und ihr grelles Aussehen eine bei den Aristokraten des 19. Jahrhunderts verbreitete Meinung zu bestätigen scheint, nach der das Böse vor allem eine extreme Form des Vulgären ist.84
84 Werner 1981, S. 115.
Während sich auf der visuellen Ebene die Wirklichkeit also bedrückend real ins Bild setzt – die Story bekommt hier physische Qualität – kommt mit der Musik – gleich einem doppelten Boden – die psychische Qualität ins Spiel, die Andeutung und Entwicklung seelischer Grundbefindlichkeiten. Damit folgt der Film einer Art »semisubjektiven Erzählperspektive« (Visarius), die sich mit dem Erfahrungsraum Rosemaries deckt, wenn auch nicht mit ihrer Wahrnehmungsperspektive. Ihre subjektive Realität bildet deshalb für den Zuschauer besonders in

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