- 184 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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dieser Gesellschaft, denn das Klavierstück vermittelt Alltag, Realität. Bereits im vergangenen Jahrhundert steht das Salonstück für ein Zeitrefugium inmitten des Alltagslebens; der Salon gilt als Parzelle einer heilen Welt, an die auch Rosemarie glaubt. Von der dramaturgischen Anlage her bleiben die Ereignisse rund um Rosemarie somit stets ambivalent. Lange Zeit kann man das Ganze als psychologische Studie der Zwangsvorstellungen einer neurotischen Schwangeren ansehen. Bis zum Schluß bleibt dieser Dualismus bestehen. Diese konsequente Ambiguität rückt das Problem der Realitätsauffassung in den Mittelpunkt. Der Film bringt vier verschiedene Realitätsebenen ins Spiel: die dogmatische des christlichen Glaubens, die magische des Satanismus, die Alltagsnormalität einer säkularisierten Gesellschaft und schließlich die subjektiv-psychologische Realität Rosemaries, die unter dem Druck dieser verschiedenen »Welten« in eine Krise gerät. Für Elise agiert auf allen Realitätsebenen gleichzeitig. In erster Linie suggeriert es – wie bereits mehrfach geschildert – den New Yorker Alltag im Bramford-Haus: im Grunde liegt in der Hartnäckigkeit, mit der die Regie uns mit dem Stück den normalen Alltag des Hauses akribisch vorgaukelt, etwas Hinterhältiges, das von den Charakteren aufgenommen wird. Sie alle sind klischeebehaftete Vertreter des »guten Amerika«. Ihre Verhaltensweisen werden zugleich von Polanski spöttisch kritisiert: Sapirstein, ein über jeden Zweifel erhabener Arzt; Roman, ein weitgereister Gentleman der alten Schule und auf den zweiten Blick zugleich abgetakelter Lebemann, der in altmodischen Anzügen und schickem Strohhütchen über die Sixth Avenue spaziert, und seine Frau Minnie, die allezeit hilfsbereite, wenn auch geschwätzige und neugierige Nachbarin, und nicht zuletzt Guy, ein ehrgeiziger Schauspieler, dessen Karrierebesessenheit auch von seiner Umgebung als »normaler« gesellschaftlicher Anspruch akzeptiert wird. Die Tatsache, daß er Schauspieler ist, liefert eine besondere Variante: Erfolg bedeutet ihm nicht die Erfüllung seiner künstlerischen Anstrengungen, sondern ist ihm Garant für bessere Kleidung, ein größeres Haus mit Swimming-Pool – für mehr »Lebensqualität«, d.h. mehr Konsum. In dieser Hinsicht stehen sich rationale Erklärung der Ereignisse und die dramaturgisch konsequente, aber völlig irrationale Verschwörungstheorie gegenüber. Indem Polanski das Eindeutige bis zum Schluß vermeidet, macht er die subtile Verwirrung der Sinne zum filmischen Programm. Für Elise fügt sich in diese gewollte Konfusion ein. »Worauf es ankommt«, so Kracauer, »ist natürlich eine Begleitmusik, die dadurch die Bilder belebt, daß sie die materiellen Aspekte der Realität hervorlockt.«81
81 Kracauer 1996, S. 198.
Falls man als Zuschauer also »ungläubig« ist, so suggeriert Polanski mit diesem Stück, das scheinbar nicht abzuschütteln ist, daß die Ereignisse um Rosemarie durchaus real sein könnten. Erstaunlicherweise ist das Klavierstück genaugenommen einer der wenigen Hinweise auf Rosemaries soziale Umgebung: die Handlung des Films spielt zwischen Sommer 1965 und 1966. Auch wenn es Polanski darum ging, durch Kostüme, entsprechende Ausgestaltung des Sets u.ä. die authentische Stimmung und Atmosphäre dieser Zeit wiederzuerschaffen82
82 Polanski 1984, S. 226; vgl. auch Leaming 1982, S. 54.
, so scheinen die Figuren von »Flower Power«, vom Aufkeimen der Protestbewegungen oder von der tiefen Krise des nationalen Selbstbewußtseins in den USA doch gänzlich unberührt. Auch der Besuch Papst Paul VI., der im Fernsehen übertragen und von Guy und den Castavets als pure Show abgetan

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