dieser
Gesellschaft, denn das Klavierstück vermittelt Alltag, Realität. Bereits im vergangenen
Jahrhundert steht das Salonstück für ein Zeitrefugium inmitten des Alltagslebens; der
Salon gilt als Parzelle einer heilen Welt, an die auch Rosemarie glaubt. Von
der dramaturgischen Anlage her bleiben die Ereignisse rund um Rosemarie
somit stets ambivalent. Lange Zeit kann man das Ganze als psychologische
Studie der Zwangsvorstellungen einer neurotischen Schwangeren ansehen. Bis
zum Schluß bleibt dieser Dualismus bestehen. Diese konsequente Ambiguität
rückt das Problem der Realitätsauffassung in den Mittelpunkt. Der Film bringt
vier verschiedene Realitätsebenen ins Spiel: die dogmatische des christlichen
Glaubens, die magische des Satanismus, die Alltagsnormalität einer säkularisierten
Gesellschaft und schließlich die subjektiv-psychologische Realität Rosemaries, die
unter dem Druck dieser verschiedenen »Welten« in eine Krise gerät. Für Elise
agiert auf allen Realitätsebenen gleichzeitig. In erster Linie suggeriert es – wie
bereits mehrfach geschildert – den New Yorker Alltag im Bramford-Haus: im
Grunde liegt in der Hartnäckigkeit, mit der die Regie uns mit dem Stück den
normalen Alltag des Hauses akribisch vorgaukelt, etwas Hinterhältiges, das von den
Charakteren aufgenommen wird. Sie alle sind klischeebehaftete Vertreter des »guten
Amerika«. Ihre Verhaltensweisen werden zugleich von Polanski spöttisch kritisiert:
Sapirstein, ein über jeden Zweifel erhabener Arzt; Roman, ein weitgereister
Gentleman der alten Schule und auf den zweiten Blick zugleich abgetakelter
Lebemann, der in altmodischen Anzügen und schickem Strohhütchen über die Sixth
Avenue spaziert, und seine Frau Minnie, die allezeit hilfsbereite, wenn auch
geschwätzige und neugierige Nachbarin, und nicht zuletzt Guy, ein ehrgeiziger
Schauspieler, dessen Karrierebesessenheit auch von seiner Umgebung als »normaler«
gesellschaftlicher Anspruch akzeptiert wird. Die Tatsache, daß er Schauspieler ist,
liefert eine besondere Variante: Erfolg bedeutet ihm nicht die Erfüllung seiner
künstlerischen Anstrengungen, sondern ist ihm Garant für bessere Kleidung, ein
größeres Haus mit Swimming-Pool – für mehr »Lebensqualität«, d.h. mehr
Konsum. In dieser Hinsicht stehen sich rationale Erklärung der Ereignisse und die
dramaturgisch konsequente, aber völlig irrationale Verschwörungstheorie gegenüber.
Indem Polanski das Eindeutige bis zum Schluß vermeidet, macht er die subtile
Verwirrung der Sinne zum filmischen Programm. Für Elise fügt sich in diese gewollte
Konfusion ein. »Worauf es ankommt«, so Kracauer, »ist natürlich eine Begleitmusik,
die dadurch die Bilder belebt, daß sie die materiellen Aspekte der Realität
hervorlockt.«81
81 Kracauer 1996, S. 198.
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Falls man als Zuschauer also »ungläubig« ist, so suggeriert Polanski mit diesem Stück,
das scheinbar nicht abzuschütteln ist, daß die Ereignisse um Rosemarie durchaus real
sein könnten. Erstaunlicherweise ist das Klavierstück genaugenommen einer der wenigen
Hinweise auf Rosemaries soziale Umgebung: die Handlung des Films spielt zwischen
Sommer 1965 und 1966. Auch wenn es Polanski darum ging, durch Kostüme, entsprechende
Ausgestaltung des Sets u.ä. die authentische Stimmung und Atmosphäre dieser Zeit
wiederzuerschaffen82
82 Polanski 1984, S. 226; vgl. auch Leaming 1982, S. 54.
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so scheinen die Figuren von »Flower Power«, vom Aufkeimen der Protestbewegungen
oder von der tiefen Krise des nationalen Selbstbewußtseins in den USA doch gänzlich
unberührt. Auch der Besuch Papst Paul VI., der im Fernsehen übertragen und von Guy
und den Castavets als pure Show abgetan
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