- 183 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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heilen Welt bleibt auch hier gewahrt. Die kontrapunktische Funktion der Musik ist an dieser Stelle deutlicher denn je, denn längst hat sich Roses Verdacht erhärtet, daß das Kind lebt. Kurz vor dem Höhepunkt der Handlung demonstriert die Musik damit ein letztes Mal eine bürgerliche Alltagswelt, deren Fassaden jedoch zunehmend bröckeln, deren zweifelhafte Normalität allmählich pervertiert.

Ein letzter Aspekt ist bei allen behandelten Szenen zu betonen: das Verhältnis von Geräusch und Musik. In der ersten Szene, in der Für Elise zitiert wird, eröffnet Guy mit dem laufenden Wasserkran gleich die Geräuschstrategie des Films, die in allen weiteren analysierten Szenen durch zwei Mittel eine erhebliche Wirkung zu erzielen versteht: das überdeutliche Tropfen des Wasserkrans in der Küche und das notorische Ticken des Weckers im Schlafzimmer. Auf diese Weise wird die Geräuschdramaturgie ein Teil der Musikdramaturgie (Lissa), Geräusche und Musik sind gleichberechtigt. Bei allen Szenen, die sich in der Küche abspielen, fällt sofort das überlaute Tropfen des Wasserkrans auf, der sich mit der Musik und diversem Verkehrslärm von der Straße vermischt. In Szene 49 mündet die Musik sogar in Tropfgeräusche und Kindergeschrei. Szene 65 spielt im Schlafzimmer der Woodhouses, hier übernimmt der Wecker die Rolle der konstant bohrenden Geräuschquelle. Hier liegt die einzige Gemeinsamkeit zwischen Für Elise und den Geräuschen: beide Ebenen treten stets zur gleichen Zeit mit der gleichen Hartnäckigkeit auf. Adorno und Eisler sehen in der Verbindung von Geräusch und Musik die ideale Mischung, bei der es notwendig ist, die Musik auf reale Geräusche abzustimmen: das bedeutet entweder, die Musik ähnelt dem Geräusch oder sie bildet einen deutlichen Kontrast. In diesem Fall könnte letzterer nicht deutlicher ausfallen. Im Vergleich zu den entfernten seichten Klängen des Klaviers wirken die ewigen Tropfgeräusche plump, monoton. Polanski eröffnet dem Zuschauer damit die Möglichkeit des analytischen Hörens, Geräusche und Musik sind bei aller funktionaler Gemeinsamkeit dennoch voneinander zu trennen. Dahinter verbirgt sich jedoch lediglich die Motivation, auf die Geräuschstrategie aufmerksam zu machen: die Ausdauer, mit der nicht nur die Musik, sondern auch die Geräusche auftreten, zeigt, daß sich jene viel zitierte Zweideutigkeit fortträgt. Ein undichtes Wasserkranventil oder ein tickender Wecker sind an sich banale Alltagsgeräusche; genau wie die Musik in diesen Szenen vermitteln sie das tägliche Einerlei. Ihre Beharrlichkeit verwirrt den Zuschauer jedoch, sie wirkt bedrohlich und gefährlich. Das Ticken der Uhr macht dies besonders deutlich. Es signalisiert Zeitverlust, subtile Bedrohung und Gefährdung. Damit charakterisieren diese Geräusche nicht nur die unmittelbare filmische Realität, wie Rosemarie sie in ihrem Alltagsleben empfindet, sondern auf subtilste Art und Weise auch die Gefahr, in der sie sich befindet.

Somit liegt hier also eine deutliche Semantisierung durch das Zitat vor. Die Funktion von Für Elise liegt zunächst in der sozialen Repräsentation einer bürgerlichen Gesellschaftsschicht (inhaltlich-dramaturgische Ebene nach Thiel). Als solche agiert sie auch in ästhetischer Funktion im Sinne von aktueller Musik (Kracauer). Interessant dabei ist, wie Polanski die Absurdität dieser Horrorgeschichte in die unmittelbare Gegenwart miteinbezieht, wie aus Phänomenen des Alltags langsam aber sicher die Architektur eines allmählich sich ausbreitenden Schreckensgefühls aufsteigt. Darüber hinaus eröffnet es als Salonstück – wie im 19. Jahrhundert – zugleich den Blick für die dahinterstehende Kultur- und Alltagsgeschichte


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