- 182 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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In Szene 35 erklingt das Stück zum vierten Mal. So wie das Nachbarskind zwar leidliche, aber dennoch Fortschritte bei der Einstudierung des Stückes macht, so schreitet auch die Handlung immer weiter voran: Rose ist schwanger, Minnie mixt ihr seltsame Kräutercocktails und mischt sich zunehmend in ihr Leben, Roses heftige Schmerzen und ihre befremdlichen Gelüste nach halbrohem Fleisch und Hutchs Argwohn: dramaturgische Details, welche die Handlung spannungsvoll verdichten und die Vermutung immer mehr zur Gewißheit werden lassen, daß Roses Nachbarn mit dem Teufel im Bunde stehen – wäre da nicht jenes bohrende Beharrungsvermögen des Klavierstückes, das uns immer wieder in die »normale Welt« des Bürgertums zurückzerrt. Auch die folgenden Szenen belegen dies: das vorweihnachtliche New York mit all seiner glitzernd kitschigen Geschäftigkeit, die Silvesterfeier bei den Castavets oder Rosemaries Partyvorbereitungen (Szene 43) sind Zeugnisse eines amerikanischen Lebensstils, der einem auch heute noch auf Schritt und Tritt begegnet und der sich um der Wirklichkeitstreue willen nicht leugnen läßt.

Spätestens in Szene 43, in der das Stück zum nunmehr fünften Mal zitiert wird, hat man sich langsam aber sicher an den Dualismus gewöhnt, der die gesamte Dramaturgie durchzieht. Rose geht es zusehends schlechter. Während ihrer Partyvorbereitungen zeigt sie erste Anzeichen von Mißtrauen gegenüber Minnie und verweigert den Saft. Natürlich wirkt dies spannungssteigernd, der Konfliktaufbau wird jedoch gleich wieder ein wenig durch das Zitat aufgefangen, das erneut den unspektakulären Mietshausalltag suggeriert. Durch ein stümperhaft gespieltes Salonstück wird nahegelegt, wie trivial die Umgebung geartet ist. Damit verliert auch das Magische, Mysteriöse zusehends seinen Irrealitätscharakter. »Das Teuflische«, so Schmidt, »ist eine Variante des Trivialen, es wohnt sozusagen Tür an Tür mit ihm«.80

80 Schmidt 1976b, S. 269.

Die Ereignisse verdichten sich. Roses Gefühl der Verlorenheit verstärkt sich umso mehr, da niemand ihre Schmerzen ernst zu nehmen scheint. Sie erleidet auf der Party einen erneuten Schmerzanfall. Hutch stirbt, nachdem er monatelang im Koma gelegen hat. Doch hartnäckig erklingt zu jeder Tageszeit immer wieder Beethovens Stückchen und bringt für Rose die aus den Fugen geratene Welt in der scheinbaren Geborgenheit ihrer häuslichen Umgebung wieder in ein zweifelhaftes Gleichgewicht. So ertönt es ein weiteres Mal, nachdem Rose von der Beerdigung nach Hause zurückgekehrt ist (Szene 49). In dieser Hinsicht erfüllt das Zitat an dieser Stelle nicht nur die Funktion eines sozialen Indexes, sondern es nimmt auch eine Wertung der bürgerlichen Gesellschaft vor – in dieser Welt verändert sich nichts. Dies wirkt umso erschütternder angesichts der Tatsache, daß sich in Roses Wohnung jene unvorstellbaren Umwälzungen vollziehen. Je weiter die Handlung voranschreitet, umso mehr kippt die Musik von der Dimension der anfänglichen Bild- sprich Milieuillustration in einen dramaturgischen Kontrapunkt (nach Kracauer eine ästhetische Funktion). Sie kommentiert die Engstirnigkeit ihrer eigenen Trägerschicht, deren glanzvolle Zeiten mit der Jahrhundertwende im Grunde erloschen sind. Dies wird ein letztes Mal in Szene 65 offenbar, kurz bevor Rosemarie in die Nachbarwohnung eindringt und das Baby entdeckt. Nach einem mißglückten und dramatischen Fluchtversuch wird sie entbunden, der Verbleib des Kindes ist ungewiß. Dennoch kümmern sich die Nachbarn mit aufdringlich freundlicher Fürsorge um Rosemarie, der Schein einer


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