- 181 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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In dieser Hinsicht könnte man – zumindest formal – Kracauer zustimmen, der Zufallsmusik und Geräusche auf eine Stufe stellt, nur mit dem Unterschied, daß das Klavierstück nicht zufällig erklingt. Im Gegenteil: es ist mit bohrender Hartnäckigkeit vorhanden. Spätestens in Szene 25 wird dies offenbar. Mittlerweile wurde Rosemarie durch den »Leibhaftigen« geschwängert. Doch der Schein kleinbürgerlicher Normalität bleibt nicht zuletzt durch die ausdauernde Präsenz des Klavierstückes bewahrt. Der Zuschauer hat Rose gegenüber einen scheinbaren Wissensvorsprung, doch letztlich kann auch er sich nicht sicher sein. Schließlich könnte es sich bei der Vergewaltigung »nur« um einen Alptraum gehandelt haben. Und gerade dies eröffnet eine dramaturgische Schere: die Grenzen zwischen Realität und Irrealität beginnen zu schwimmen. Beethovens Für Elise erhält hierbei die Funktion der sozialen Erkennungsmarke, die letztlich auch den Zuschauer verwirrt, denn die bürgerliche Normalität ist in Form dieser zähen Übungsstunden lediglich hörbar; was man demgegenüber jedoch sieht, ist eine kleinbürgerliche Welt, die durch kaum vorstellbare Umwälzungen ins Wanken gerät. Indem nicht nur Rosemarie, sondern letztlich auch dem Zuschauer durch das musikalische Kontinuum Alltag, Realität vorgegaukelt wird, erhält das Außerordentliche, das Magische und unvorstellbar Irreale einen besonderen Akzent. Die Musik erfüllt hier nicht zuletzt den Zweck einer dramaturgisch motivierten Bild- und Handlungsillustration: das Irreale in Gestalt des Teufelskultes findet in einer höchst realen, nämlich bürgerlich-trivialen Umgebung statt und nicht etwa wie in klassischen Horrorfilmen in Gegenwart von Hexen und anderen phantastischen Gestalten in feudalen Schlössern, während draußen der Sturm um die düsteren Mauern heult. Der Horror bricht ins bürgerliche Reihenhaus ein. Damit fungiert das Klavierstück zugleich strukturierend im Sinne einer psychologischen Bestimmung (Schmidt), indem es als mehr oder weniger vager Reizhintergrund auf dramaturgische Besonderheiten – die Irrealität in einem realen Milieu – hinweist, ohne selbst zum Mittelpunkt zu werden. Sie bildet eine diffuse und subtile Folie mit zugleich dynamisierenden Eigenschaften – eine Funktion, die Schmidt so zusammenfaßt: »Ohne Musik kann das Wichtige übersehen werden; mit Musik wird sogar das Banale bedeutungsvoll.« Und gerade das Triviale dieser Szene – das Mädchen, das sich nebenan am Klavier die Finger verbiegt – stößt den Zuschauer letztlich in eine dramaturgische Ungewißheit zwischen Wirklichkeit und Illusion, die bis zum Schluß erhalten bleibt. Nicht zuletzt erhält Beethovens Klavierstück spätestens hier eine syntaktische Funktion (Motte-Haber) innerhalb der Montage, da sie als konstantes Element einen kontinuierlichen Zusammenhang schafft zwischen real und imaginär gestalteten Szenen. Formal gesehen könnte man Für Elise spätestens bei der dritten Wiederkehr auch in die Nähe eines Leitthemas rücken. Es ist schnell identifizierbar, als solches ermöglicht es wie das Leitmotiv Interpretationen auf der Handlungsebene, deren Informationen sich ausschließlich an den Zuschauer wenden. Das Leitthema wie auch das Leitmotiv ist dabei nicht ausschließlich an Personen gebunden, sondern ist auch Handlungsorten, Situationen oder Emotionen zuzuordnen. Dramaturgisch gesehen jedoch versagt Für Elise hier als eine Art Leitthema insofern seinen Dienst, als daß es dem Zuschauer weniger einen Wissensvorsprung garantiert als vielmehr sein Unwissen um Realität und Irrealität zusätzlich verstärkt.

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