- 179 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Beethovens Stück fungiert stets als Bildton, es ist als Musik im Film realiter vorhanden. Zwar kann die Quelle zunächst noch nicht lokalisiert, aber dennoch assoziiert werden, denn die Tonleitern und Fingerübungen haben einen konkreten räumlichen Aspekt. Es wird klar, daß diese »Geräusche« aus einer der Nachbarwohnungen herüberklingen; damit werden sie mittelbar vom Geschehen auf der visuellen Ebene ausgewiesen. Man muß annehmen, daß das Stück von einer noch in den technischen Anfängen steckenden Klavierschülerin gespielt wird. Das Tempo ist zu langsam, das Stück wird recht holperig bewältigt. Als Rose und Guy das Wohnzimmer betreten, erfaßt die Kamera für den Bruchteil eines Augenblicks ein wuchtiges Klavier, das in der Nähe des Fensters steht. Damit bekommt der Zuschauer eine Vorstellung von der zunächst undefinierten Musikquelle – wenn auch nur mittelbar, da diese in einer Nebenwohnungen zu suchen ist. Nach Pauli sind Bildtöne Bestandteile der filmischen Realität. Sie geben Hinweise auf Ort und Zeit der Handlung, den Schauplatz oder den sozialen Anlaß. Und damit setzt die konkrete Beschriftung durch das Zitat ein. Der einleitende Kameraschwenk über die New Yorker Häuserkulisse endet über dem Bramford-Haus – der erste Hinweis auf das soziale Milieu: ein Verwalter, dem es wichtig ist, die Wohnung an einen Arzt zu vermieten, der dem Portier mit spitzen Fingern unsichtbare Fussel von der Uniform entfernt; ein antiquierter Fahrstuhl, ein Labyrinth von dunklen Gängen, quietschende Türen, ein angegrauter beschädigter Fußboden – wir befinden uns in einem alten viktorianischen Gebäude, dessen ehemalige Eleganz durch Handwerker notdürftig erhalten wird, den ursprünglichen Glanz kann man eigentlich nur noch erahnen. Spätestens bei der Wohnungsbesichtigung wird der Zuschauer mit der Nase förmlich auf das soziale Milieu gestoßen. Das Wohnzimmer der Vormieterin ist ein aussagekräftiges Aushängeschild: ein »echter« Kamin, dekoriert mit einer antiken Uhr, Plüschsofa, hohe Bücherregale, schwere dunkle Vorhänge, kitschige Lampen, altmodische Ölschinken an der Wand, dicke rote Teppiche und zu guter Letzt – ein Klavier. Wir befinden uns in den sechziger Jahren in einem – wenn auch angestaubten – bürgerlichen Salon des 19. Jahrhunderts. Das Stück Für Elise verschwindet zwar kurz zuvor im Geräusch des fließenden Wasserkrans – einem Alltagsgeräusch – doch bleibt das musikalische Etikett während der gesamten Wohnungsbesichtigung erhalten. »Was zählt, ist der Ort, an dem die Melodie ertönt.« (Kracauer): Wie die szenische Ausstattung hat denn auch die Musik an dieser Stelle die Funktion eines sozialen Indexes, sie bildet ein Detail des so apodiktisch dekorierten bürgerlichen Milieus, sie ist Gegenstand eines bürgerlich ästhetischen Erfahrungshorizontes. Damit ist die Trägerschicht der Musik – letztlich des Filmes – definiert. Als Schauspieler, sprich Künstler, kann auch Guy zu dem sogenannten Bildungsbürgertum gezählt werden. Auf diese Weise erhält die Musik gemäß Kracauer auch eine ästhetische Funktion. Sie ist – wenn auch im Hintergrund – aktuell vorhanden ein »Zeugnis fließenden Lebens« und rückt das Bildthema – sprich die der Exposition angemessene soziale Milieustudie – in den Vordergrund, vergleichbar mit Coplands und Prendergasts Ausführungen. So erfüllt Beethovens Klavierstück an dieser Stelle auch eine semantisch-denotative Funktion (Maas), indem sie auf gesellschaftliches Kolorit, auf den sozialen Ort verweist: den der bürgerlichen Mittelschicht, die etwas auf sich hält und ihre Kinder zum Klavierüben anleitet. Indem der musikalische Nachwuchs seine ungelenken Finger zunächst an

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