Interesse an klassischen
Werken im Salon waren also im Grunde mehr als schlecht, ihre musikalische Faktur
war zu komplex. Bei ihnen lag nicht immer gleich alles »auf der Hand«. Ihr
Unterhaltungswert war gemessen an dem übrigen Repertoire eher mäßig. Die
wenigen Stücke klassisch-romantischer Komponisten, die wie Für Elise dennoch
Eingang in die Salonliteratur fanden, lassen sich jedoch, so Ballstaedt und
Widmaier, nicht nur mit Prestigegewinn erklären. Die Vermutung liege nahe, daß
ein Teil des klassischen Repertoires mit Erfolg auch im Salon gespielt werden
konnte und für dessen Zwecke »brauchbar« waren. »Brauchbar« heißt in diesem
Zusammenhang, daß sie »salonfähig« waren, d.h. sie enthielten musikalische Momente,
die auf dem musikalischen Erfahrungshorizont des Salonpublikums Interesse
erregt haben könnten, weil sie dem gewohnten Salonstil nahekam – so auch
Beethovens Für Elise: mittlerer Schwierigkeitsgrad, mitunter strikte Trennung
von linker und rechter Hand, auf Wiederholung basierende Formenkanons und
obligatorische Anreize durch Titel (z. B. Schumanns Kinderszenen oder Schuberts
Sehnsuchtswalzer). Selbst auf den sentimentalen Ton mußte man nicht verzichten,
Klangschwelgereien um des emphatischen Ausholen willens konnte man auch
hier genießen. Zwar schlugen Klassiker den sentimentalen Gestus keineswegs
in der Weise an wie herkömmliches Salonrepertoire, doch die Kombination
bestimmter musikalischer »Allerweltsphänomene« wie Vorhalte oder chromatische
Wechselnoten ergab oft einen sentimentalen Ton. Natürlich gibt es diese Phänomene
in nahezu jedem Klavierwerk im 19. Jahrhundert. Dies ist jedoch nicht der
springende Punkt. Wichtig ist dabei der Umstand, daß ein nicht unerheblicher
Teil der Klassiker aus dem Salonalbenrepertoire Merkmale des sentimentalen
Tones in charakteristischer und auffallender Weise aufwies. Erinnert sei an
dieser Stelle beispielsweise an das Spiel der Wechselnoten in Beethovens Für
Elise.74
74 Ballstaedt/Widmaier 1989, S. 348.
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Auch das Mittel der Wiederholung bietet in diesem Stück ein geeignetes strukturelles
wie rhetorisches Merkmal, um der Melodie zu besonderer Eingängigkeit zu
verhelfen – eine kompositorische Handschrift, die man als »mittleren Beethoven«
bezeichnet. Somit boten die in den Salonalben veröffentlichten Klassiker einige
Anhaltspunkte, die es dem Publikum ermöglicht haben dürften, sie in Richtung
Salonmusik hinzuspielen bzw. »umzuhören«, letztlich umzufunktionalisieren.
Was also in der alltäglichen Praxis funktionierte, fand auch seinen Ausdruck in
den Versuchen, den Geltungsbereich der Salonmusik auszuweiten. Bei einigen
Autoren geraten die sonst so säuberlich errichteten ästhetischen Grenzlinien ins
Schwimmen:
»Beethovens Bagatellen, Märsche und Variationen, Hummels »la bella capricciosa«
u.s.w., Weber’s »Aufforderung zum Tanze«, [...] Mendelssohn’s »Lieder
ohne Worte«, Schumann’s »Kinderscenen« sind einfache Formen, sind Salonmusik.«75
75 Johann Christian Lobe: »Salonmusik«. In: Johann Christian Lobe: Fliegende Blätter für
Musik. Wahrheit über Tonkunst und Tonkünstler, Bd. I. Leipzig 1855, S. 156, zit. n.
Ballstaedt/Widmaier 1989, S. 349.
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»Was waren denn die Rondos, Rondinos, Variationen, Bagatellen, Divertissements
über die plattesten Themas, die damals [Ende des 18. Jahrhunderts] en
vogue, [anderes] als eine Salonmusik?«76
76 Hans von
Bronsart: Musikalische Pflichten. Leipzig 1858, S. 14, zit. n. Ballstaedt/Widmaier 1989,
S. 349.
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