- 177 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Interesse an klassischen Werken im Salon waren also im Grunde mehr als schlecht, ihre musikalische Faktur war zu komplex. Bei ihnen lag nicht immer gleich alles »auf der Hand«. Ihr Unterhaltungswert war gemessen an dem übrigen Repertoire eher mäßig. Die wenigen Stücke klassisch-romantischer Komponisten, die wie Für Elise dennoch Eingang in die Salonliteratur fanden, lassen sich jedoch, so Ballstaedt und Widmaier, nicht nur mit Prestigegewinn erklären. Die Vermutung liege nahe, daß ein Teil des klassischen Repertoires mit Erfolg auch im Salon gespielt werden konnte und für dessen Zwecke »brauchbar« waren. »Brauchbar« heißt in diesem Zusammenhang, daß sie »salonfähig« waren, d.h. sie enthielten musikalische Momente, die auf dem musikalischen Erfahrungshorizont des Salonpublikums Interesse erregt haben könnten, weil sie dem gewohnten Salonstil nahekam – so auch Beethovens Für Elise: mittlerer Schwierigkeitsgrad, mitunter strikte Trennung von linker und rechter Hand, auf Wiederholung basierende Formenkanons und obligatorische Anreize durch Titel (z. B. Schumanns Kinderszenen oder Schuberts Sehnsuchtswalzer). Selbst auf den sentimentalen Ton mußte man nicht verzichten, Klangschwelgereien um des emphatischen Ausholen willens konnte man auch hier genießen. Zwar schlugen Klassiker den sentimentalen Gestus keineswegs in der Weise an wie herkömmliches Salonrepertoire, doch die Kombination bestimmter musikalischer »Allerweltsphänomene« wie Vorhalte oder chromatische Wechselnoten ergab oft einen sentimentalen Ton. Natürlich gibt es diese Phänomene in nahezu jedem Klavierwerk im 19. Jahrhundert. Dies ist jedoch nicht der springende Punkt. Wichtig ist dabei der Umstand, daß ein nicht unerheblicher Teil der Klassiker aus dem Salonalbenrepertoire Merkmale des sentimentalen Tones in charakteristischer und auffallender Weise aufwies. Erinnert sei an dieser Stelle beispielsweise an das Spiel der Wechselnoten in Beethovens Für Elise.74
74 Ballstaedt/Widmaier 1989, S. 348.
Auch das Mittel der Wiederholung bietet in diesem Stück ein geeignetes strukturelles wie rhetorisches Merkmal, um der Melodie zu besonderer Eingängigkeit zu verhelfen – eine kompositorische Handschrift, die man als »mittleren Beethoven« bezeichnet. Somit boten die in den Salonalben veröffentlichten Klassiker einige Anhaltspunkte, die es dem Publikum ermöglicht haben dürften, sie in Richtung Salonmusik hinzuspielen bzw. »umzuhören«, letztlich umzufunktionalisieren. Was also in der alltäglichen Praxis funktionierte, fand auch seinen Ausdruck in den Versuchen, den Geltungsbereich der Salonmusik auszuweiten. Bei einigen Autoren geraten die sonst so säuberlich errichteten ästhetischen Grenzlinien ins Schwimmen: »Beethovens Bagatellen, Märsche und Variationen, Hummels »la bella capricciosa« u.s.w., Weber’s »Aufforderung zum Tanze«, [...] Mendelssohn’s »Lieder ohne Worte«, Schumann’s »Kinderscenen« sind einfache Formen, sind Salonmusik.«75
75 Johann Christian Lobe: »Salonmusik«. In: Johann Christian Lobe: Fliegende Blätter für Musik. Wahrheit über Tonkunst und Tonkünstler, Bd. I. Leipzig 1855, S. 156, zit. n. Ballstaedt/Widmaier 1989, S. 349.

»Was waren denn die Rondos, Rondinos, Variationen, Bagatellen, Divertissements über die plattesten Themas, die damals [Ende des 18. Jahrhunderts] en vogue, [anderes] als eine Salonmusik?«76

76 Hans von Bronsart: Musikalische Pflichten. Leipzig 1858, S. 14, zit. n. Ballstaedt/Widmaier 1989, S. 349.


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