Salonmusik eine neue soziale Wirklichkeit aus. Das ehemals adelige
Musizieren verwandelte sich in ein bürgerliches »Musikmachen«, das weit verbreitet
war.70
Inmitten dieser nie versiegenden Quellen kleiner Klavierstücke, die eigenes für den
Salon geschrieben wurden, gehört Beethovens Stück Für Elise zu den sogenannten
»Klassikern im Salon«, denn »Massendilettanten«, so formuliert es Debuysère, »wollen
alles spielen, was andere spielen, [. . . ] es mag sich um Sonaten, Salonstücke oder Tänze
handeln. Wie gefräßige Haifische werfen sie sich auf alles, was ihnen vor die Zähne
kommt.«71
71 Carl Debuysère: Die Klavier-Dilettanten. Beitrag zur Lösung der Dilettantenfrage.
Leipzig 1900, S. 11.
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Doch überraschenderweise fanden Klavierwerke klassischer und romantischer
Komponisten in Dilettantenkreisen wenig Anklang. So berichtet ein Zeitgenosse wenig
Ermutigendes über die Einschätzung dieser Werke:
»Ueber die Werke der ältern [sic] klassischen Meister spricht man mit
Achselzucken, vielleicht ohne sie mehr als dem Namen nach zu kennen; ein
Galopp oder Walzer gilt mehr als eine Sonate von Mozart oder Beethoven, ein
Salonstück irgend eines modernen Clavierlöwen mehr als ein Mendelssohn’sches
Lied ohne Worte.«72
72 J. J. Schäublin: Ueber die Bildung des Volkes für Musik und durch Musik. Basel 1865,
S. 194–195, zit. n. Ballstaedt/Widmaier 1989, S. 343.
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In ihrem Salonalbenrepertoire, so stellen Ballstaedt und Widmaier fest, stellen die
Klassiker gerade 2,4 Prozent der gesamten erfaßten Klavierstücke dar, eine letztlich
unbedeutende Größe. Wäre ihr Stellenwert für das notenkaufende Salonpublikum größer
gewesen, so hätten es sich die Verlage sicher nicht nehmen lassen, mehr Stücke dieses
»Genres« als Kaufanreiz in die Alben aufzunehmen. Eine mögliche Erklärung für das
stumme Dasein der Klassiker: »gesellschaftliche« Bildung demonstrierte man zwar allein
durch die Tatsache, daß man ein Klavier besaß, aber letztlich dürften die andauernde
»bildungsbürgerliche« Kritik an Salonmusik und die zunehmenden Bemühungen der
privaten Klavier- und schulischen Musiklehrer, das Publikum ästhetisch zu erziehen,
nicht gänzlich ohne Wirkung geblieben sein. Sicher schadete es nach außen hin dem
sozialen Ansehen und der Einschätzung als Gebildeter nicht, wenn man – wie in der
Literatur – so auch in der Musik den »Heroen« der deutschen Kultur seine Reverenz
erwies. Der Besitz von Klassiker-Noten bewährte sich durchaus in sozialer Hinsicht, wie
ein Werbeanzeige aus dem Jahre 1859 für Hallberger’s Pracht-Ausgabe der Classicer
bestätigt:
»Classicität ist das Losungswort der jetzigen Zeit! Die Musik, diese Universalsprache
der Welt, kann hinter der Literatur nicht zurückbleiben; wo deshalb Musik
mit ächter [sic] Liebe und wahrem Verständnis in Salon und Haus getrieben
wird, frägt man zuerst und vor Allem nach den Classikern, und wie in
jeder gebildeten Familie sich Göthe [sic] und Schiller finden, so sollten auch
Beethoven und Mozart nirgends fehlen.«73
73 Anzeige in: Hallbergers Salon I/3. Heft (1859), zit. n. Ballstaedt/Widmaier 1989, S. 344.
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Es mußte ja nicht gleich eine kostspielige Klassiker-Prachtausgabe angeschafft werden,
aber das eine oder andere Stück als Einzelheft oder im Salonalbum wirkte immer nobel
und zeugte von einer Bildungsbeflissenheit, die über das von der »guten Gesellschaft«
Geforderte hinausging. Die Voraussetzungen für ein wirkliches
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