- 175 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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war ein Statussymbol: das Repräsentations- und Empfangszimmer, die Stätte der Begegnung mit der Außenwelt. Doch in solch hingebungsvoller Dekoration steckten Ängste und Ausblendung. Salonmusik wurde um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem »Sanktionierten Schutzgebiet von Irrationalität« (Adorno). Indem man in solch überladener Atmosphäre Salonstücke spielte, glaubte man doch, ein höheres Niveau zu erreichen. Damit hatte Salonmusik die Aufgabe, die gute Stube in den Rang eines adeligen Salons zu erheben. In seinem Buch Die Musik des 19. Jahrhunderts und ihre Pflege schreibt Adolf Bernhard Marx: »Dazu noch die Hausmusik. Kaum darf man noch fragen: wer ist musikalisch? sondern: wer ist es nicht? In den sogenannten höhern oder gebildetern [sic] Kreisen galt Musik längst als unerläßlicher Theil der Bildung; jede Familie forderte ihn, [. . . ] bis in die Kreise des Kleinhandels und Gewerks hinein wird der endlos drängenden Arbeitsnoth Zeit, knappem Erwerb Geld abgelistet und abgerungen, um wenigstens für die Töchter Klavier, Noten, Lehrer, Musikbildung zu erbeuten, vor allem in der Hoffnung, damit zu den ›Gebildeten‹ zu zählen.«65
65 Adolf Bernhard Marx 1855, zit. n. Hildebrandt 1985, S. 254–255; vgl. auch Fellerer 1984, S. 17.
Mit dieser sozialen Schere bekam der Begriff der Salonmusik im Laufe des 19. Jahrhundert zunehmend eine abschätzige Note, die ihm übrigens bis heute haftengeblieben ist: Salonmusik wurde nun als Inbegriff schlechter Musik angeprangert, als »kunstunwürdiges Zeug« (Lobe), »triviales Tongeklingel« (Riemann), letztlich gesunkenes Kulturgut. Die Musikwissenschaft geht mit solcher Art Musik hart ins Gericht. Sie ist, so Eggebrecht, das deutlichste Zeugnis für das sozialgeschichtlich bedingte Aufkommen der Trivialmusik im 19. Jahrhundert, die in Befriedigung eines Massenbedürfnisses als Ware entsteht und konsumiert wird und die sich »in der erfolgreichsten Erfüllung ihrer Aufgabe durch Qualitätslosigkeit und Vergessenwerden auszuzeichnen vermag.«66
66 Vgl. auch Carl Dahlhaus (Hrsg.): Studien zur Trivialmusik des 19. Jahrhunderts. Regensburg 1967, darin besonders: Hans Christoph Worbs: »Salonmusik«, S. 121–130; Dahlhaus 1980, S. 261–269.

Auch Heine karikierte sie in verächtlichen Tönen: »Jenes Pianoforte [. . . ], das man in allen Häusern erklingen hört, in jeder Gesellschaft, Tag und Nacht [. . . ] (Ach! meine Wandnachbarinnen [. . . ] spielen in diesem Augenblick ein brillantes Morceau für zwei linke Hände).«67

67 Heinrich Heine 1843, zit. n. Eggebrecht 1992, S. 86.
Das Klavier wird, so beschreibt Hildebrandt metaphorisch, zum »tyrannischen Besatzer«, der ein strenges Regiment führt, ein lautes Kommando. Er »terrorisiert« ganze Städte, macht in vielen Straßen das Wohnen zur Plage. Über Zehntausende Kinder hat er ans Klavier geschmiedet, für die höhere Tochter wird er zum unerbittlichen Aufpasser. Manche Jugend hat er vereitelt.68
68 Hildebrandt, S. 12.
Und wieder ein Vierteljahrhundert später erbost sich der Kritiker Eduard Hanslick über die »gemeine, schädliche und gemeinschädliche Klavierspielerei«, über die »Klavierseuche«.69
69 Eduard Hanslick 1900, zit. n. Hildebrandt 1985, S. 11.
In der Tat hatte die Musik im bürgerlichen Milieu nicht nur eine affektive Funktion – sie sollte Emotionen freilegen – sondern auch eine soziale Bedeutung: sie sollte den Stand des Bildungsbürgertums darstellen. Zudem hatte sie einen Freizeitwert: in heutiger Terminologie war sie Unterhaltung, eine einfache Musik, die das Bürgertum kultivierte. Damit drückte

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