- 174 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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zu den ersten vollständigen und zum Vorspiel geeigneten Salonstücken führten. Es galt das Prinzip: Je schneller, desto besser! Besonders für die unbegabten Schülerinnen wurde der oft so unbeliebte Klavierunterricht zur Dressur, zum Paradedrill schlechthin, der auf eine mechanische Abrichtung am Klavier ausgerichtet war. Das Wort »Üben« wurde zum Schreckgespenst für viele Kinder. Offenbar war es eine bei vielen Eltern verbreitete Vorstellung, daß das Klavierspiel in erster Linie etwas Mechanisches sei, das einzig und allein auf Fingerfertigkeit beruhe und daher selbst von einem ganz und gar unmusikalischen Geschöpf bei entsprechen-dem Drill bewerkstelligt werden könne.59
59 Ballstaedt/Widmaier 1989, S. 208; vgl. auch Pius Dietschy: Schulkind und Musik im 19. Jahrhundert. Darstellung der sozialen und bildungspolitischen Aspekte am Beispiel der Region Zürich. Basel 1982.
Grete Wehmeyers Angriff, den sie mit ihrem geflügelten Ausdruck der »Einzelhaft am Klavier« am Beispiel von Leben und Lehre Carl Czernys skizziert hat, wehrt sich gegen solche »Dressurmethoden«. Den Grund solcher Maßnahmen sieht sie in einem Übergriff der Leistungsgesellschaft des 19. Jahrhunderts auf die Kunst: »Die industrielle Arbeitsideologie [...] lenkte auch die Beschäftigung mit der Kunst auf einen Weg, der zu der Höchstperfektion führte, die uns heute von jeder Schallplatte entgegentönt. [...] Da die kapitalistische Arbeitsideologie in der Wirtschaft, der Industrie und der Wissenschaft noch voll akzeptiert wird, ist sie auch in der Kunstausübung uneingeschränkt in Kraft.«60
60 Wehmeyer 1983, S. 162–163.

Die Klavierstücke der Salonmusik, so befand ein deutscher Musikpädagoge, stammen aus dem »Geist der neufranzösischen und neuitalienischen Oper« und wirkten dahin, daß das »Parfum der Salons in das bescheidene bürgerliche Haus hinübergetragen wird.«61

61 Wilhelm Heinrich Riehl 1849, zit. n. Ballstaedt/Widmaier 1989, S. 59.
Das Repertoire umfaßte grob gesagt einfache Charakterstücke, Tänze, massenhaft vereinfachte Bearbeitungen von Fantasien, Rondos, Variationen beispielsweise über beliebte Opernthemen, Caprien, Lieder ohne Worte und dergleichen mehr. Die Stücke, die in der Musikgeschichte oft abwertend »Backfischliteratur« genannt werden, mußten leicht sein, denn schwerere Musik hätte Eitelkeit und Ehrgeiz suggeriert – Eigenschaften, die einer Frau nicht zu Gesicht standen. Eigeninitiative sollte die Frau am Klavier ebensowenig entwickeln wie im bürgerlichen Alltag. Die Titel der Stückchen gaben oft jene geheime Verständigung zwischen der Tochter und ihren Verehrern im Salon preis: »Mädchentraum«, »Liebesgeflüster«, »Schmeichelkätzchen« und »Herzblättchen« oder »Backfischchens Traum«.62
62 Sabin 1998, S. 40.
Die Komponisten waren – um die bekanntesten zu nennen – Herz, Kalkbrenner, Hünten, Thalberg, Kullak und unter zahllosen anderen auch Tekla Badarzewska-Baranowska, deren Gebet einer Jungfrau bereits 1871 in 50 Ausgaben vorlag.63
63 Hans Heinrich Eggebrecht: »Salonmusik.« In: Carl Dahlhaus/Hans Heinrich Eggebrecht: Brockhaus Riemann Musiklexikon, Bd. 4. Mainz 1992, S. 86.

Aus dem ehemals aristokratischen Salon war also ein bürgerliches Wohnzimmer, die »gute Stube«, geworden – das Allerheiligste der Bourgeoisie, in dem das Salonstück die Stunde des Musizierens als ein Zeitrefugium inmitten des All- und Arbeitstages reklamiert. Die »gute Stube« war dabei nichts anderes als die Parzelle einer heilen Welt. Walter Salmen schreibt hierzu: »Im schroffen Gegensatz zu den dürftigen Behausungen der Arbeiter in schmucklosen Elendsquartieren umgab man sich hier überladend mit Plüsch, Öldrucken an den Wänden, falschen Blumen, Nippes, Historienmalerei, schweren Vorhängen und Beethovenbüsten.«64

64 Walter Salmen: Haus- und Kammermusik. Privates Musizieren im gesellschaftlichen Wandel zwischen 1600 und 1900. Leipzig 1969, S. 30.
Der Salon

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