zu den ersten vollständigen und zum Vorspiel geeigneten
Salonstücken führten. Es galt das Prinzip: Je schneller, desto besser! Besonders für die
unbegabten Schülerinnen wurde der oft so unbeliebte Klavierunterricht zur Dressur, zum
Paradedrill schlechthin, der auf eine mechanische Abrichtung am Klavier ausgerichtet war. Das
Wort »Üben« wurde zum Schreckgespenst für viele Kinder. Offenbar war es eine bei vielen
Eltern verbreitete Vorstellung, daß das Klavierspiel in erster Linie etwas Mechanisches sei,
das einzig und allein auf Fingerfertigkeit beruhe und daher selbst von einem ganz
und gar unmusikalischen Geschöpf bei entsprechen-dem Drill bewerkstelligt werden
könne.59
59 Ballstaedt/Widmaier 1989, S. 208; vgl. auch Pius Dietschy: Schulkind und Musik im 19.
Jahrhundert. Darstellung der sozialen und bildungspolitischen Aspekte am Beispiel der Region
Zürich. Basel 1982.
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Grete Wehmeyers Angriff, den sie mit ihrem geflügelten Ausdruck der »Einzelhaft am
Klavier« am Beispiel von Leben und Lehre Carl Czernys skizziert hat, wehrt sich
gegen solche »Dressurmethoden«. Den Grund solcher Maßnahmen sieht sie in einem
Übergriff der Leistungsgesellschaft des 19. Jahrhunderts auf die Kunst: »Die industrielle
Arbeitsideologie [...] lenkte auch die Beschäftigung mit der Kunst auf einen Weg, der
zu der Höchstperfektion führte, die uns heute von jeder Schallplatte entgegentönt.
[...] Da die kapitalistische Arbeitsideologie in der Wirtschaft, der Industrie und der
Wissenschaft noch voll akzeptiert wird, ist sie auch in der Kunstausübung uneingeschränkt in
Kraft.«60
60 Wehmeyer 1983, S. 162–163.
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Die Klavierstücke der Salonmusik, so befand ein deutscher Musikpädagoge, stammen aus
dem »Geist der neufranzösischen und neuitalienischen Oper« und wirkten dahin,
daß das »Parfum der Salons in das bescheidene bürgerliche Haus hinübergetragen
wird.«61
61 Wilhelm Heinrich Riehl 1849, zit. n. Ballstaedt/Widmaier 1989, S. 59.
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Das Repertoire umfaßte grob gesagt einfache Charakterstücke, Tänze, massenhaft
vereinfachte Bearbeitungen von Fantasien, Rondos, Variationen beispielsweise über beliebte
Opernthemen, Caprien, Lieder ohne Worte und dergleichen mehr. Die Stücke, die in der
Musikgeschichte oft abwertend »Backfischliteratur« genannt werden, mußten leicht sein, denn
schwerere Musik hätte Eitelkeit und Ehrgeiz suggeriert – Eigenschaften, die einer Frau
nicht zu Gesicht standen. Eigeninitiative sollte die Frau am Klavier ebensowenig
entwickeln wie im bürgerlichen Alltag. Die Titel der Stückchen gaben oft jene geheime
Verständigung zwischen der Tochter und ihren Verehrern im Salon preis: »Mädchentraum«,
»Liebesgeflüster«, »Schmeichelkätzchen« und »Herzblättchen« oder »Backfischchens
Traum«.62
Die Komponisten waren – um die bekanntesten zu nennen – Herz, Kalkbrenner,
Hünten, Thalberg, Kullak und unter zahllosen anderen auch Tekla
Badarzewska-Baranowska, deren Gebet einer Jungfrau bereits 1871 in 50 Ausgaben
vorlag.63
63 Hans Heinrich Eggebrecht: »Salonmusik.« In: Carl Dahlhaus/Hans Heinrich Eggebrecht:
Brockhaus Riemann Musiklexikon, Bd. 4. Mainz 1992, S. 86.
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Aus dem ehemals aristokratischen Salon war also ein bürgerliches Wohnzimmer,
die »gute Stube«, geworden – das Allerheiligste der Bourgeoisie, in dem das
Salonstück die Stunde des Musizierens als ein Zeitrefugium inmitten des All-
und Arbeitstages reklamiert. Die »gute Stube« war dabei nichts anderes als
die Parzelle einer heilen Welt. Walter Salmen schreibt hierzu: »Im schroffen
Gegensatz zu den dürftigen Behausungen der Arbeiter in schmucklosen
Elendsquartieren umgab man sich hier überladend mit Plüsch, Öldrucken an den
Wänden, falschen Blumen, Nippes, Historienmalerei, schweren Vorhängen und
Beethovenbüsten.«64
64 Walter Salmen: Haus- und Kammermusik. Privates Musizieren im gesellschaftlichen
Wandel zwischen 1600 und 1900. Leipzig 1969, S. 30.
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Der Salon
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