- 173 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Sozialisation, sprich das widerstandslose Sicheinfügen in eine vorgeschriebene Rolle aufgezwungen.

Das Klavierspiel sollte ebenso potentielle Ehekandidaten anlocken. Nach ihrer Pensionatzeit kehrt sie in den Schoß der Familie zurück, um auf den »großen Unbekannten« zu warten. Das kleine Salonkonzert, das zur Gewohnheit bürgerlicher Kultur wurde, gab einer jungen Frau die seltene Gelegenheit, auf sich aufmerksam zu machen: es suggerierte, daß sie zugleich heiratsfähig und -willig war, aber auch, daß sie eine gute Partie sei. Die Musik wurde damit zum Kommunikationsmittel, das deutlicher und allemal diskreter als Sprache sein konnte. Während die Tochter spielte, beobachtete die Mutter die »potentiellen Anwärter«, eine Funktion, die Hildebrandt mit den Worten umschreibt: »Die Achtung [...] für die üble Musik ist nicht allein sozusagen eine Form der geschmackvollen Nächstenliebe oder ihr Skeptizismus, vielmehr ist es das Wissen um die soziale Rolle der Musik. Wieviele Melodien, die in den Augen eines Künstlers ganz wertlos sind, sind aufgenommen in den Kreis der vertrauten Freunde von tausend jungen Verliebten oder romantisch Lebenshungrigen.«54

54 Hildebrandt 1985, S. 253.

Was heute, so umschreibt es Hildebrandt salopp, der Fiberstab beim Stabhochsprung, ist damals das Klavier beim Erklimmen der sozialen Stufenleiter. In dieser Hinsicht könnte sich auch der Begriff der »höheren« Tochter erklären, jenes Wesen, das einen schwer zu durchschauenden Flirt mit dem Komparativ aus den »besseren Kreisen« hat: ist sie als Tochter höher, bringt sie es weiter als ihre Eltern? Oder ist sie unter den Freundinnen, unter anderen Töchtern die höhere, oder heißt sie nur so, weil sie einfach höher hinaus will? Eine weitere Funktion des Klavierspiels lag in der Disziplinierung der höheren Tochter. Im Verhältnis zum Vater sollte sich das Mädchen in die oben genannte Rolle einfügen, die sie später ihrem Gatten gegenüber zu erfüllen hatte. Demnach mußte die Tochter kleine, aber wichtige Aufgaben bei der Ausgestaltung der heimischen Atmosphäre übernehmen. Sie sollte der »Sonnenstrahl des Hauses« sein und dem von der Arbeit müde heimkehrenden Vater die »Sorgen von der Stirn scheuchen«, so zitieren es Ballstaedt und Widmaier aus einem Handbuch der feinen Lebensart.55

55 Emma Kallmann 1891, zit. n. Ballstaedt/Widmaier 1989, S. 203.
Mit der Klaviermusik hatte das Mädchen einen wirkungsvollen »Sorgenbrecher« an der Hand. Im übrigen wurde erwartet, daß die höhere Tochter diese Pflicht mit »froher Bereitwilligkeit« erfüllte. Auf diese Weise wurde die Tochter am Klavier zum sozialen Zentrum von Familie und Geselligkeit.56
56 Sabin 1998, S. 35.
Aber es ging nicht nur um die Erfüllung des väterlichen Wunsches nach Zerstreuung nach einem harten Arbeitstag. Töchter sollten mittels der musikalischen Betätigung die Unterordnung unter männliche Autorität erlernen. Sie sollten am Klavier die so sehr geschätzte Tugend der Selbstüberwindung und der Selbstdisziplin »einüben«. Nicht Talent war gefragt, sondern Durchhalten. Dementsprechend galt das Klavierspiel bei einer jungen Frau als Indiz für ihren Charakter. Klavierspielen zeugte von Selbstdisziplin und Ausdauer – Attribute, die bei einer Frau für wichtig galten.57
57 Sabin 1998, S. 36.
Täglich wurde es dem Mädchen oft mehrere Stunden abverlangt, eine Art der »geistigen Aufzucht« und »Ruhigstellung« nach bürgerlichem Benimmkodex. So rät auch 1851 das amerikanische Harper’s Magazine jungen Frauen: »Schlagen Sie nie die Augen auf oder drehen Sie den Körper herum [...] Suchen Sie mehr zu gefallen als zu verblüffen.«58
58 Sabin 1998, S. 37.
So gab die Tochter ein »anmutiges« Bild in sittsamer Haltung ab, während ihre Finger in scheinbarer Mühelosigkeit die »reizendsten« Töne produzierten. Die Eltern maßen den Klavierunterricht vornehmlich an den Ergebnissen, die er brachte, an den Fortschritten, die von den anfänglichen Fingerübungen hin

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