Exkurs: Die »Höhere Tochter«
Sealsfields Zitat deutet es bereits an: das Klavier war im bürgerlichen Haushalt des 19.
Jahrhunderts vorwiegend ein weibliches Accessoire, das Instrument der »höheren
Tochter«. Die »Einzelhaft« der Tochter am Klavier, wie es Grete Wehmeyer so verächtlich
und temperamentvoll zugleich zu formulieren pflegte, hatte verschiedene Funktionen.
Zur standesgemäßen Aufwandnorm der besitz- und bildungsbürgerlichen Kreise
gehörte eine exklusive Töchterbildung: diese wurden auf »höhere Mädchenschulen«
oder Pensionate geschickt oder bekamen Privatunterricht bei Hauslehrern. Da es ein
Zeichen von Mode und Bildung war, erhielten viele auch Klavierunterricht – ob sie
Talent hatten oder nicht, war eher von zweitrangiger Bedeutung. Mit viel Zeit und
Aufwand wurden der Tochter die Finger schon »zurechtgebogen«. Damit entsprach
Salonmusik dem allgemeinen Trend im 19. Jahrhundert, nach dem Musik Teil einer
Lebensform war, in der »Bildung nach Geselligkeit und Geselligkeit nach Bildung
strebte«.50
50 Dahlhaus 1980, S. 35/142.
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Amerikanische Mädchen, die Klavier spielen mußten, wurden denn auch liebevoll herablassend
»piano girls« genannt: »Das Klavier-Mädchen wurde gezwungen, an der Klaviatur zu üben, auch
wenn es kein Talent hatte. Alle Mädchen spielten Klavier; nicht zu spielen, war ein Stigma von
Armut.«51
51 James Huneker: Overtones. New York 1904, S. 286.
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Doch erfüllte diese Klaviermanie nicht nur einen sozial repräsentativen Zweck. Die Musik – und
diese Ansicht, so Ballstaedt und Widmaier, bildete das ideologische Fundament der
Musikerziehung für Mädchen – sollte auf die »Ausformung des weiblichen Charakters«
einwirken. Der Klang des Klaviers, so schrieb der Philologe und Komponist Carl Ludwig Junker
1783 in seiner Schrift Vom Kostüm des Frauenzimmer Spielens, entspreche dem »weiblichen
Geschlechtscharakter« am besten. Er befand, daß das Klavier der Frau am besten
stehe.52
52 zit. n. Stefana Sabin: Frauen am Klavier. Skizze einer Kulturgeschichte. Frankfurt am
Main/Leipzig 1998, S. 31.
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Tatsächlich war man der populären Auffassung, daß es einen Zusammenhang gab zwischen der
angeblich wesensmäßigen »weiblichen« Eigenschaft der Gefühlshaftigkeit und der Musik als
einer »Gefühlskunst«. So entspreche der Stimmungsgehalt sentimentaler Salonmusik dem
Gefühlsleben des Mädchens oder der jungen Frau. Die Musik sei in der Lage, die weiblichen
Gefühle zu »verfeinern und veredeln«. Man war der Ansicht, daß die Frau »von Natur aus« von
ihrem Wesen her emotional, passiv und prädestiniert für ein beschränkt häusliches Leben
erschien, von Geburt an disponiert für ein künftiges Dasein als Gattin und Mutter. Neben der
Kindererziehung war es ihre wichtigste Aufgabe, ihr Heim zu einem Ort psychischer und
physischer Erholung des Gatten herzurichten, denn dieser verkörperte das rationale, aktive
Element, bestimmt, sich im öffentlichen Leben zu bewähren und zu behaupten. Mit dieser
grundsätzlich differierenden Geschlechtercharakterisierung war ein Bildungsprogramm
formuliert, dessen Sinn in der Vervollkommnung der jeweiligen Wesensmerkmale liegen
sollte.53
53 Ballstaedt/Widmaier 1989, S. 202.
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Das familiäre Leben sollte für den Ehemann ein Gegenpol zu seiner Außenwelt sein, die im Zuge
kapitalistischer Umwälzungen immer feindlicher und bedrohlicher erschien. Die musikalische
Erziehung galt also als wichtiger Garant für eine sublime Charakterbildung der Frau, welche die
Grundlage für ihre »sittliche Mission« bildete. Gleichzeitig wurde ihr damit der Anschein einer
eigenen Tätigkeit gegeben, um sie in der sozialen Enge ihrer häuslichen Umgebung zu halten.
Die Gebundenheit des Klaviers an die Häuslichkeit wurde damit letztlich auch für die Frau der
Ort, in dem sie wie ein Hefeteig mehr aufzugehen schien als der Mann. Letztlich
wurde ihr im Gewand eines musikalischen »Bildungsschwindels« das Ziel weiblicher
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