- 172 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Exkurs: Die »Höhere Tochter«

Sealsfields Zitat deutet es bereits an: das Klavier war im bürgerlichen Haushalt des 19. Jahrhunderts vorwiegend ein weibliches Accessoire, das Instrument der »höheren Tochter«. Die »Einzelhaft« der Tochter am Klavier, wie es Grete Wehmeyer so verächtlich und temperamentvoll zugleich zu formulieren pflegte, hatte verschiedene Funktionen. Zur standesgemäßen Aufwandnorm der besitz- und bildungsbürgerlichen Kreise gehörte eine exklusive Töchterbildung: diese wurden auf »höhere Mädchenschulen« oder Pensionate geschickt oder bekamen Privatunterricht bei Hauslehrern. Da es ein Zeichen von Mode und Bildung war, erhielten viele auch Klavierunterricht – ob sie Talent hatten oder nicht, war eher von zweitrangiger Bedeutung. Mit viel Zeit und Aufwand wurden der Tochter die Finger schon »zurechtgebogen«. Damit entsprach Salonmusik dem allgemeinen Trend im 19. Jahrhundert, nach dem Musik Teil einer Lebensform war, in der »Bildung nach Geselligkeit und Geselligkeit nach Bildung strebte«.50

50 Dahlhaus 1980, S. 35/142.
Amerikanische Mädchen, die Klavier spielen mußten, wurden denn auch liebevoll herablassend »piano girls« genannt: »Das Klavier-Mädchen wurde gezwungen, an der Klaviatur zu üben, auch wenn es kein Talent hatte. Alle Mädchen spielten Klavier; nicht zu spielen, war ein Stigma von Armut.«51
51 James Huneker: Overtones. New York 1904, S. 286.
Doch erfüllte diese Klaviermanie nicht nur einen sozial repräsentativen Zweck. Die Musik – und diese Ansicht, so Ballstaedt und Widmaier, bildete das ideologische Fundament der Musikerziehung für Mädchen – sollte auf die »Ausformung des weiblichen Charakters« einwirken. Der Klang des Klaviers, so schrieb der Philologe und Komponist Carl Ludwig Junker 1783 in seiner Schrift Vom Kostüm des Frauenzimmer Spielens, entspreche dem »weiblichen Geschlechtscharakter« am besten. Er befand, daß das Klavier der Frau am besten stehe.52
52 zit. n. Stefana Sabin: Frauen am Klavier. Skizze einer Kulturgeschichte. Frankfurt am Main/Leipzig 1998, S. 31.
Tatsächlich war man der populären Auffassung, daß es einen Zusammenhang gab zwischen der angeblich wesensmäßigen »weiblichen« Eigenschaft der Gefühlshaftigkeit und der Musik als einer »Gefühlskunst«. So entspreche der Stimmungsgehalt sentimentaler Salonmusik dem Gefühlsleben des Mädchens oder der jungen Frau. Die Musik sei in der Lage, die weiblichen Gefühle zu »verfeinern und veredeln«. Man war der Ansicht, daß die Frau »von Natur aus« von ihrem Wesen her emotional, passiv und prädestiniert für ein beschränkt häusliches Leben erschien, von Geburt an disponiert für ein künftiges Dasein als Gattin und Mutter. Neben der Kindererziehung war es ihre wichtigste Aufgabe, ihr Heim zu einem Ort psychischer und physischer Erholung des Gatten herzurichten, denn dieser verkörperte das rationale, aktive Element, bestimmt, sich im öffentlichen Leben zu bewähren und zu behaupten. Mit dieser grundsätzlich differierenden Geschlechtercharakterisierung war ein Bildungsprogramm formuliert, dessen Sinn in der Vervollkommnung der jeweiligen Wesensmerkmale liegen sollte.53
53 Ballstaedt/Widmaier 1989, S. 202.
Das familiäre Leben sollte für den Ehemann ein Gegenpol zu seiner Außenwelt sein, die im Zuge kapitalistischer Umwälzungen immer feindlicher und bedrohlicher erschien. Die musikalische Erziehung galt also als wichtiger Garant für eine sublime Charakterbildung der Frau, welche die Grundlage für ihre »sittliche Mission« bildete. Gleichzeitig wurde ihr damit der Anschein einer eigenen Tätigkeit gegeben, um sie in der sozialen Enge ihrer häuslichen Umgebung zu halten. Die Gebundenheit des Klaviers an die Häuslichkeit wurde damit letztlich auch für die Frau der Ort, in dem sie wie ein Hefeteig mehr aufzugehen schien als der Mann. Letztlich wurde ihr im Gewand eines musikalischen »Bildungsschwindels« das Ziel weiblicher

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