- 170 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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weisen Abweichungen von der uns vertrauten Gestalt des Stückchens auf. Wie verbürgt ist der Notentext dieser – wenigstens im populären Genre – inzwischen möglicherweise bekanntesten Beethovenschen Klavierkomposition? Vorhandene Skizzen lassen immerhin darauf schließen, daß die Komposition tatsächlich von Beethoven stammt. Der Ausfall der Quellen gibt jedoch nur noch Anlaß zu Spekulationen, die aufzuführen hier jedoch zu weit führen würde. Aus Mangel an näheren Erkenntnissen versieht man das Stück heute gerne mit Kennzeichnungen wie »Albumblatt«, »Für Elise« mit Fragezeichen oder man hält sich möglichst bedeckt, indem gesagt wird »Bagatelle« oder noch neutraler »Klavierstück a-Moll.«

Natürlich handelt es sich um eine Bagatelle, ein Musikstück geringen Umfangs, eine »musikalische Kleinigkeit«, die im 19. Jahrhundert von jenen Charakterstücken zu unterscheiden ist, die meist in Zyklen zusammengefaßt weitaus poetischere Titel aufweisen. An dieser Stelle wäre es müßig, auf die allseits bekannte musikalische Struktur einzugehen. Viel wichtiger – letztlich auch für unsere Frage nach der Funktion in Rosemaries Baby – ist der Stellenwert der Komposition. Beethoven war ein Anhänger der Tonartencharakteristik. Die gedämpfte, eher kühle und leicht melancholische – oder elegische – Stimmung von a-Moll, wie sie Für Elise vorführt, umreißt Christian Friedrich Daniel Schubart mit den Worten »fromme Weiblichkeit und Weichheit des Charakters«.41

41 Riethmüller 1994, S. 438.
Ein Fingerzeig für Beethoven? Zumindest weist diese Tonartencharakterisierung Schubarts auf den sozialen - gesellschaftlichen - Stellenwert dieser kleinen Komposition: sie gehört zu jenen Stücken, die mit der Bezeichnung Salonpiecen oder Salonmusik belegt sind wie Schumanns Träumerei oder Sindings Frühlingsrauschen.42
42 Schmidt 1976b, S. 268.
Im 19. Jahrhundert war das Repertoire der Salonstücke das Beritt der »höheren Tochter«. Später bekamen sie den Beigeschmack von »schlechter Musik«. Heute gelten diese Stücke als »Popularklassik« und werden noch immer von Klavierschülern traktiert. Insofern ist vielmehr die Frage nach dem Stellenwert von Salonstücken im Leben und Wertesystem der Gesellschaft im 19. Jahrhundert von Bedeutung. Dieser läßt sich wiederum nur vor einem globalen, sozialgeschichtlichen Hintergrund bestimmen. In dieser Hinsicht ist es erforderlich. daß sich der traditionelle musikwissenschaftliche Blickwinkel hier zur Sozial-, Kultur- letztlich zur Alltagsgeschichte öffnet. Es geht nicht um eine – gemessen am fragwürdigen Maßstab von Kunstmusik – ästhetische Bewertung von Salonmusik, vielmehr soll das historische Verstehen der sozialen Rolle, der gesellschaftliche Zweck, die historische Präferenz von Salonmusik ins Zentrum rücken. An dieser Stelle sei an die Haltung Marcel Prousts erinnert, der er 1896 in seiner Abhandlung Lob der schlechten Musik Ausdruck verlieh: »In der Geschichte der Kunst bekleidet sie [die schlechte Musik] keinen hohen Rang, aber in der Geschichte der Gefühle der menschlichen Gesellschaften spielt sie eine ungeheuer wichtige Rolle. Die Achtung vor der schlechten Musik – ich sage nicht, die Liebe zu ihr – ist nicht nur eine Form dessen, was man die gütige Nachsicht des guten Geschmacks oder seines Skeptizismus’ nennen könnte, sie entspricht auch dem Wissen um die soziale Rolle der Musik.«43
43 Marcel Proust: Lob der schlechten Musik, 1935, zit. n. Andreas Ballstaedt/Tobias Widmaier: Salonmusik. (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, Bd. XXVIII). Stuttgart 1989, S. 8.


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