- 166 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Neue Musik als Garant für Sachlichkeit zwischen Film und Musik anpriesen, hat sich somit nicht bestätigt. Ihre These: Neue Musik tilgt jegliche »süßen Filmmusik-Floskeln«. Indem diese jedoch mittlerweile besonders dem Horrorgenre vorbehalten ist, ist sie damit selbst zum Klischee geworden. Zwar ist ihr Argument, Neue Musik gehe konkret und sachlich auf die Dramaturgie ein, hier nicht von der Hand zu weisen, doch lassen Adorno und Eisler dabei die funktionale Ergänzung von Film und Musik außer Acht.31
31 Vgl. Kap. 1.2.
Und diese ist hier offensichtlich: In Rosemaries Traum erscheinen bis auf wenige Ausnahmen alle Personen und Erlebnisse, soweit sie im filmischen Verlauf bisher vorgekommen sind. Rosemaries Orientierungslosigkeit, die nicht zuletzt durch das Betäubungsmittel hervorgerufen wurde, reflektiert sich in der Musik. Sie demonstriert darüber hinaus den Horror, den Rosemarie empfindet, als sie die tierähnlichen gelben Schlitzaugen des Teufels auf sich zukommen sieht, ebenso schockiert ist der Zuschauer. Insofern fungiert die visionäre Musik hier auf mehreren Ebenen zugleich: auf der dramaturgisch-inhaltlichen Ebene illustriert sie zum einen das undurchsichtige Geschehen (Thiel), zum anderen die beklemmenden Licht- und Raumwirkungen der Szene (Dunkelheit, Feuer, Dominanz der Farbe Rot). Ebenso trägt sie zur affirmativen Bildinterpretation bei – der konnotativen Funktion (Maas) gleichkommend – indem sie sowohl die physische (Schmidt) als auch die psychische und seelische Verfassung (Thiel) von Rosemarie besonders während der Vergewaltigung widerspiegelt. Indem die Musik nicht nur das Geschehen illustriert, sondern ebenso den Zuschauer zum »Mitleidenden« macht, fungiert sie auch auf psychologischem Niveau affirmativ (nach Pauli auch die sogenannte Metafunktion). In diesen Funktionen trägt die visionäre Musik jedoch auch den von Polanski bewußt gesetzten dramaturgischen Dualismus fort: sie suggeriert zum einen die Vision, den Traum; die Reflexion von Rosemaries Psyche und letztlich des sich identifizierenden Zuschauers macht sie jedoch andererseits zum Träger filmischer Realität. Was ist nun wirklich passiert und was nicht? Ist der Traum im Freudschen Sinne die schuldbewußte Verdrängung sexueller Bedürfnisse eines katholischen Mädchens oder hat sich der Leibhaftige tatsächlich aus der Hölle heraufbegeben, um Rosemarie zu schwängern? Polanski liefert auch hier wiederum keine Antwort.

Als Dr. Hill Roses Schwangerschaft bestätigt, erklingt eine Variation der Titelmusik. Spätestens hier konkretisiert sich ihre Symbolik: sie steht für das erwartete Mutterglück. Die Ambivalenz bleibt stets erhalten, denn der Zuschauer kann sich nicht sicher sein, ob der Teufel oder Guy sie in einem Anfall von Perversion geschwängert hat. Unter dem Stichwort der »visionären Musik« erklingt in Szene 33 ein sogenanntes »Schmerz-Motiv« (Schmidt), das in variierter Form noch häufiger begegnet. Es erschließt seine Bedeutung aus dem synchronen Bezug zum filmischen Geschehen. Rosemarie empfindet den Schmerz nicht nur als physische, sondern auch als psychische Bedrohung, genauer gesagt als unheilvolle Ahnung, der Aufbau des Konflikts nimmt seinen Lauf. Der mysteriöse Ausdruck dieses Motivs liegt vor allem im Tritonus-Schritt b-e, der sogenannte »Diabolus in Musica«. In der darauffolgenden Szene kehrt das Schmerz-Motiv leicht variiert wieder: Rosemaries ißt ein halbrohes Steak; die Musik verleiht dieser Handlung die semantische Aufladung des Abnormen. Darüber hinaus weist die visionäre Musik dramaturgische


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