- 165 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Maskerade gealteter Eitelkeit. Sie tritt – in exzentrisch greller Aufmachung – als überaus neugierig und hilfsbereit zudringlich auf, mit einem schnarrenden New Yorker Akzent, aber dennoch im großen und ganzen recht gutmütig. Für Rosemarie hingegen ist dieses Ereignis das tragische Moment, das sie fortan in die Gesellschaft der Teufelsanbeter verstrickt. Der Konflikt wird nun langsam aufgebaut. Ihre Ängste demonstrieren sich jedoch nur in ihrem Unterbewußtsein.

Wie bereits oben angedeutet gehört der Slow Fox in der darauffolgenden Szene 15 zur privaten Atmosphäre von Rosemarie. Er läuft im Hintergrund des Geschehens, dient also als musikalische Kulisse. Insofern erfüllt der Slow Fox als aktuelle Musik eine ästhetische Funktion im Sinne Kracauers. Obwohl sie keine Zufallsmusik ist, ist sie hier durchaus als ein »Zeugnis fließenden Lebens« anzusehen: was zählt, so Kracauer, ist der Ort, an dem die Musik ertönt, nicht ihr Inhalt. Insofern repräsentiert sie hier eine soziale Stellung: Rosemarie ist eine junge Frau der gehobenen amerikanischen Mittelschicht der sechziger Jahre, die etwas auf sich hält. Sie amüsiert sich über nicht zusammenpassendes Geschirr und bevorzugt eine dezente sentimental-zerstreuende Tanzmusik, um sich einen gemütlichen Nachmittag zu machen. Auf diese Weise illustriert der Slow Fox auch denotativ das Bild (Thiel, Maas und Copland/Prendergast), indem er sowohl gesellschaftlich gekennzeichneten »Lokalkolorit« verbreitet – wir befinden uns in einem amerikanischen Mittelstandsappartement im Herzen New Yorks – als auch einen Zeitbezug zur Tanzmusik der sechziger Jahre herstellt.

Indem Minnie ihr den silbernen Talisman schenkt, streut Polanski erneut eine dezente Spannungssteigerung. Die zentralen Fragen lauten nun: Was hat es damit auf sich? Oder: Bedeutet diese Geste Minnies überhaupt irgend etwas? Wenn ja, ist es eine Gefahr für Rosemarie? Wird sie sich dann selbst verteidigen können? Polanski fährt bewußt »zweigleisig«, der Zuschauer bleibt – wie Rosemarie selbst – zunächst verwirrt. Die langsame Tanzmusik, die Rosemarie und Guy während ihres trauten Abendessens hören, dient ähnlich wie der vorherige Slow Fox dem szenischen wie auch dem sozialen Dekor.

Während der Traumszene (Rosemaries Vergewaltigung) erklingt – nach einer befremdlichen Absenz jeglicher Geräusche – eine Art visionäre Musik (Schmidt). Sie erscheint immer nur dann, wenn im filmischen Geschehen Visionen, d.h. Traum, Schrecken, Furcht oder Schmerzempfindungen gezeigt werden. Ihre Stilmittel – Cluster, dissonante Harmonik, Ostinato, extreme Verhallung, verfremdete Klang- und Geräuschfarben – sind der Neuen Musik entnommen. Sie weicht von den dem Hörer vertrauten klanglichen Konventionen ab. Damit bildet sie eine klare Gegenposition zur Titelmusik. Ihre »schwankende Gestalt«, ihr Mangel an festen vertrauten Konturen – sowohl kompositorischer als auch klanglicher Art – bewirken beim Hörer mitunter Orientierungslosigkeit, aufgrund ihrer fremdartigen Klänge auch ein Gefühl von Unbehagen. Im Film hat sich dieses Phänomen bis heute gehalten: wo immer sichtbare wie auch atmosphärische Angst oder Schmerz dargestellt werden, erklingen Idiome der Neuen Musik, um dem Zuschauer einerseits die Grundbefindlichkeit der im Bild Agierenden zu verdeutlichen, andererseits um ihn ebenso betroffen zu machen. Damit erfährt er den ästhetischen »Schmerz« an sich selbst, er wird zum mitleidenden Zuschauer.30

30 Schmidt 1976b, S. 261/267.
Die Begeisterung, mit der Adorno und Eisler

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