- 160 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Baby »stehlen«, sind keineswegs irgendwelche mysteriösen Figuren, sondern ältere Damen und Herren aus der Nachbarschaft, die zwar auf den ersten Blick etwas unmodern, jedoch im großen und ganzen recht normal erscheinen. Damit umgeht Polanski die dem Horrorfilm oft vorgeworfene Simplizität des Genres. Vielmehr rückt er jenes zweideutige Wechselspiel zwischen Mensch und Ungeheurem in die Nähe des psychoanalytischen Horrorfilms, ja sogar des psychologisch-realistischen Thrillers, dessen Horror aus einer sozial verbindlichen Realitätswahrnehmung entspringt:16
16 Karsten Visarius: »Rosemary’s Baby.« In: Michael Töteberg: Metzler Filmlexikon. Stuttgart/Weimar 1995, S. 501; vgl. auch Lucy Fischer: »Birth traumas: parturition and horror in Rosemary’s babyCinema Journal 31 (1992) 3–18.
bis zum Schluß bleibt im Grunde offen, ob es sich tatsächlich um den leibhaftigen Diabolus handelt oder ob die Ereignisse das Ergebnis der neurotischen Einbildung einer von pränatalen Ängsten geplagten Schwangeren sind. Mit diesem Dualismus spekuliert Polanski bewußt auf die Weckung verdrängter Ängste im Zuschauer, um diesen ebenso in Panik zu versetzen wie seine Protagonistin, wobei hier ein Kind bezeichnenderweise eine zentrale Rolle spielt. Insofern war Rosemaries Baby nicht nur wegweisend, was das allgemeine Filmsujet betrifft, sondern auch in thematischer Hinsicht.

Das Horrorgenre konzentriert sich nun auf das Kind als eine üble Kraft oder zumindest als ein wichtiges Element im kosmischen Kampf zwischen Gut und Böse, Gott und Teufel. Filme wie beispielsweise Der Exorzist, Roegs Wenn die Gondeln Trauer tragen (1973) oder Das Omen folgten diesem Beispiel. William Friedkin brachte Hollywoods wiederentdecktes Interesse am Teufel auf den Punkt: »Es gibt nur drei Gründe, einen Film zu drehen: die Leute zum Lachen oder zum Weinen zu bringen oder sie zu erschrecken.«17

17 William Friedkin, ohne Quellenangabe, zit. n. Giesen 1990, S. 294.
Letzteres war denn auch die Hauptaufgabe seines Films Der Exorzist, der die Zuschauer nicht zuletzt deswegen so schockierte, weil die Hauptfigur, Regan, ein zwölfjähriges Mädchen ist, das seine Mutter ebenso ordinär beschimpft wie den greisen Exorzisten. Dieser Trend – das Kind als Verkörperung des Bösen – so deutet Narducy an, könne eine kulturelle Reaktion auf die protestierende Jugend der sechziger Jahre sein, Amerika könne seine Kinder nun als üble und destruktive Kraft ansehen.18
18 Narducy 1984, S. 403.
In einer Veröffentlichung über die Krise des amerikanischen Selbstbewußtseins heißt es ähnlich: »In (mehr oder minder) intakte Familien gutbürgerlicher Provenienz dringt das Böse, der Satan ein, zerstört sie zumindest momentan, läßt unheilbare Wunden zurück. Daß er sich ausgerechnet des Satans Nachwuchses bemächtigt, sich der Maske der kindlichen Unschuld bedient und deshalb lange Zeit unschuldig bleibt, scheint mir dabei das Entscheidende: In diesem religiös-mythologischen Kostüm satanischer Besessenheit wird die Rebellion der jungen Generation thematisiert.«19
19 Kraft Wetzel: »Krise des amerikanischen Selbstbewußtseins. Konservative Gewalt und die Lust am Untergang im US-Kino.« Kinemathek 54 (1977) 7.
Hier muß allerdings angemerkt werden, daß die Jugendbewegung lediglich eine mehrerer Bewegungen war, die das amerikanische Selbstbewußtsein in jenem Jahrzehnt erschütterten.

Rosemaries Baby avancierte sogleich zu einem modernen Klassiker seines Genres. Weltweit soll der Film der Paramount 25 Millionen Dollar eingebracht haben, das Zehnfache seiner Kosten. Weniger Anerkennung fand er hingegen bei der Katholischen


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