- 16 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Die Praxis der autonomen spätromantischen Musik, an der sich die herkömmliche Filmmusik in den dreißiger und vierziger Jahren orientiert, ist vorwiegend geprägt von längeren, entwickelten Formen. Als tonales Ereignis wird Musik mit solchen Formkategorien erst »tonal« durch den Zusammenhang entfalteter Formbeziehungen. Der Film hingegen drängt, so Adorno und Eisler, auf eher kurze Formen. Demnach ist also auch der Anspruch an die Filmmusik, kurze Formen zu wahren, berechtigt. Neue Musik wahrt eine solche Kürze. Sie verlangt nicht nach einer Wiederholung, sondern steht zunächst für sich. Wenn sie ausgesponnen wird, dann geschieht dies nicht durch symmetrische Entsprechungen, sondern durch entwickelndes Variieren.17
17 Adorno/Eisler 1976, S. 45.
Hier ergibt sich jedoch ein Widerspruch zumindest gegenüber Adornos Forderung, die Musik müsse als selbständiger Kontrapunkt zum Bild stehen. Ein musikalischer Kontrapunkt beschränkt sich nicht nur auf Kriterien des Ausdrucks wie Harmonie und Melodik, sondern auch auf die Form. Wenn Adorno hier eine kurze Form für kurze Filmeinstellungen fordert, tendiert er entgegen seiner These zum synchronen Verlauf.

Das Wesen der modernen Harmonik ist geprägt durch Spannung. Adorno und Eisler verdeutlichen dies an der Musik zu Fritz Langs Film Hangmen also Die / Auch Henker sterben aus dem Jahre 1942: »Sie [die Harmonik] kennt keinen Akkord, der nicht in sich eine ›Tendenz‹ trüge, weitertriebe, anstatt wie die meisten herkömmlichen Klänge in sich selber zu ruhen.«18

18 Adorno/Eisler 1976, S. 43.
In bezug auf die Harmonik der Neuen Musik heben Adorno und Eisler besonders den Reichtum an Dissonanzen hervor, beispielsweise die simultane Verwendung von Intervallen wie der kleinen Sekunde oder der großen Septime und Zusammenklänge von sechs oder mehr Tönen. Für den Film erachten sie dies als besonders wichtig, da ein Klang, durch Dissonanzen seiner Statik beraubt, vom kontinuierlichen Moment des »Unaufgelösten« dynamisiert wird. Damit ist die Musik dem Film verwandt. In ihm ist das Spannungsprinzip subtil in jeder kleinsten Einstellung gewahrt, die letztlich zum Sinn des ganzen Films beiträgt. Die Betonung von Dissonanzen in der Neuen Musik bedeutet in der Konsequenz die Auflösung der Tonalität. Als solche geeignet für den Film, betonen beide abermals, daß für auskomponierte, entfaltete Harmonik, wie sie Komponisten der autonomen Musik des 19. Jahrhunderts pflegten, im Film kein Platz ist.

Die »Emanzipation« der Harmonie in der Neuen Musik korrigiert zugleich den Mangel an ausgereifter Melodik in der traditionellen Filmmusik des Hollywood-Stils. Hier hieß es: Melodik um jeden Preis. Dies ging auf Kosten der Harmonik, die in Unselbständigkeit verharrte. Da jedoch nach Adorno/Eisler die Harmonik die Melodik bedingt, entwickelte sich eine abgebrauchte Konvention in der Filmmusik des Hollywood-Stils. Eine emanzipierte Melodik entlastet die Melodie. Zum anderen löst die neue Harmonik die herkömmliche Definition der Melodie als Oberstimmenmelodie ab, denn eine Freisetzung der harmonischen Dimensionen nach der Art der Neuen Musik erlaubt es der Filmmusik, nicht nur in oberflächlicher und dem Bild imitationstechnischer Oberstimmenmelodie zu verweilen, sondern »im Hintergrund« dem Bildvorgang eine »tiefere Dimension« im Sinne von Belegen oder gar Gegensätzen hinzuzufügen.


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