- 152 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (151)Nächste Seite (153) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

waren und bis zu einem gewissen Grade noch heute fortdauern«, so schreibt Michalek im Jahre 1973.93
93 Michalek 1973, zit. n. Kreimeier 1980, S. 26.
Zur Entstehungszeit des Filmes weniger beachtet als heute – nach dem Scheitern sozialistischer Botschaften – steht die spezifisch romantische Ironie in Wajdas Film. Und die Ironie ist auch hier ein »vortrefflicher Chirurg« (Kierkegaard), um die Welt in Wajdas Film zu analysieren. Damit ermöglicht er dem Publikum produktiv die Möglichkeit der Reflexion, seine Ironie taugt, schon allein durch die schaurige Darbietung der Polonaise, die Darstellung dieser Szene nicht einfach nur zu konsumieren. So ist die Stunde Null oder das obligate Jahr eins niemals nur die Endzeit für das System bisheriger Werte und Vorstellungen. Es ist nicht nur das als tragisch zu bezeichnende Abtreten von alten Ideen und Zielen. Es war immer – und ist auch heute noch die Hoch-Zeit des Opportunismus und des Karrierismus. Das polnische Volk ist nicht mehr länger in Eintracht gegen den »gemeinsamen Feind« verschworen, wie man es in zahlreichen Briefen Chopins nachlesen kann. Die Nation spaltet sich vielmehr auf. So kunkeln hier die alten und neuen Herren, ihre Umarmung ist letztlich eine wahrhaft tödliche und gespenstische, der Tod Macieks löst diese Bedeutungsebene letztlich auf. So sind die Besten in dieser Morgendämmerung entweder tot oder wie Krystyna empfindungslos, um es mit Brills94
94 Ernie Brill/Lenny Rubenstein: »The best are dead or numb: a second look at Andrzej Wajda’s Ashes and DiamondsCineaste 11 (1981) 22–26.
Worten zu formulieren. Weder Maciek oder Szczuka noch Krystyna werden irgendeine Rolle in der zukünftigen Choreographie der neuen Republik Polens spielen. In diesem Sinne erfüllt das Chopinsche Zitat in letzter Instanz auch die Rolle einer Klammer zwischen Geschichte und Gegenwart, denn das Thema der polnischen Nationalität bzw. des nationalen Traumas war im Jahre 1958 ebenso präsent wie im vergangenen Jahrhundert. Damit distanziert sich Wajdas Film jedoch von jeglichem »illudierendem« Potential (Brecht) der Musik, d.h. die Musik wird nicht als Medium genutzt, um dem Zuschauer eine Traumwelt entgegenzusetzen – im Gegenteil: Chopin tritt zunächst als Vertreter alter romantischer Ideale in die Dramaturgie des Films, um speziell in dieser Szene von der Realität revidiert zu werden. Indem Wajda als Vertreter seiner Generation Chopin in Anspruch nimmt, um – sich an der Zensur vorbeizwängend – seine politische Aussage im Film zu formulieren, zeigt er nicht nur die historische Dimension des Zitates auf, sondern wertet es zugleich als dramaturgisches Mittel, um aktuell Stellung zu nehmen. Chopins Polonaise erfüllt somit sämtliche Metafunktionen (Pauli). Die Polonaise der alten und neuen Gespenster spukt dauerhaft durch den Geschichtsmechanismus. Sie ist für Wajda die unselige Konstante, der Widerpart zum Diamanten der Hoffnung. Insofern stellt er die Geschichte Polens als dynamischen Prozeß dar, dessen historische Problematik, wie sie in Form von Chopins Polonaise formuliert wird, auch im Jahre 1958 noch Gültigkeit beansprucht und darüber hinaus um die Dimension der politischen Gegenwart erweitert wird.

8.4.  Exkurs: Volker Schlöndorff: Die Blechtrommel

Ein Vergleich mit Volker Schlöndorffs Film Die Blechtrommel drängt sich hier auf. Die familiären und politischen Veränderungen rund um die Familie Matzerath bedeuten


Erste Seite (i) Vorherige Seite (151)Nächste Seite (153) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 152 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik