- 151 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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den Amoklauf des Protagonisten in der folgenden Einstellung bis zum »bitteren Ende« abzulichten. Mit diesem abrupten Ende des Musiktakes entlarvt er letztlich auch die Künstlichkeit der Szenerie im Hotel Monopol. Aus seiner eigenen Einstellung zur Geschichte heraus dokumentiert der Regisseur, daß am Ende nur der Tod steht. Diese beklemmende Szene spiegelt im Jahre 1958 ein Lebensgefühl, das mit den offiziellen Verlautbarungen vom »Sieg des Sozialismus« nichts gemein hat. Stattdessen wird Chopins ursprünglich aufrichtiger Nationalismus ein Opfer von Verklärung und Illusion. Unüberhörbar spricht der Film in dieser Szene von dem, wovon nicht die Rede ist, was auf Thiels affirmative Bildinterpretation hinweist. Anhand der Inszenierung und des Chopinschen Zitates wird offenbar, daß es zum wenigsten die Worte sind, worin sich dieser Film ausdrückt. Aus diesem Grunde konnte eine politische Zensur auch nie effektiv durchgreifen. Ein Vergleich mit der 1948 erschienenen Romanvorlage von Andrzejewski zeigt zudem, wie sehr sich das Grundgefühl polnischen Lebens innerhalb von zehn Jahren verändert hat und wie der Film in dieser Szene den eigenen Blick des Regisseurs auf die Wirklichkeit wirft. Indem er in einer linearen Struktur Maciek zur Hauptfigur des Films erhebt, verhindert er eine gleichberechtigte Präsenz aller übrigen Figuren – auch der Festgesellschaft. Insofern verlieren diese im Gegensatz zum literarischen Medium ihre Fähigkeit, sich zu behaupten. Sie halten den Mitteilungen des Bildes nicht stand: den zweifelnden Arbeitern, dem einsamen Szczuka – und nicht zuletzt der Festgesellschaft, die jenseits jeder ernst gemeinten politischen Stellungnahme lediglich nach einer Möglichkeit sucht, sich zu amüsieren. Insofern demonstriert diese Szene mehr denn je die Veränderung des Blickes des Regisseurs. An die Stelle der Vision einer »neuen Welt« treten Zweifel und Pessimismus.

Die vorangestellte These hat sich am Beispiel von Asche und Diamant bestätigt. Wajda gestaltet die gesellschaftliche Pointe laut und im wahrsten Sinne des Wortes – unüberhörbar. Damit widerspricht er ebenso Kracauers Ansicht von aktueller Musik als ein »beiläufiges Zeugnis fließenden Lebens«. Chopins Nationalismus wird vollends in die Dramaturgie des Filmes aufgenommen. Das Zitat gerät letztlich zum Inbegriff des nationalen Traumas, aus dem Bodenlosigkeit, Ausweglosigkeit und tiefe Melancholie die Handlungen und das Existenzgefühl aller Beteiligten bestimmen. Wajda setzt keine Zeichen der Hoffnung – im Gegenteil: der idealistische Nationalismus Chopins ist darüber hinaus mit der Figur Macieks kompatibel. Zwar betreibt dieser im Film bürgerlichen Klassenterror, doch handelt er seinem Bewußtsein nach als national gesinnter Freiheitskämpfer. Der korrupten Gesellschaft gegenüber gewinnt er – wie auch Szczuka – im nachhinein einen geradezu reinen Idealismus, denn beide haben sich nicht für ihre Karrieren eingesetzt, sondern für eine Idee von Polen. Macieks Tragödie ist letztlich darin begründet, daß der politische Idealismus tot ist. So wie er letztlich auf einer Müllhalde verendet, so geht auch der Traum von einem unabhängigen Polen unter. Insofern geht Wajda über die Chopinsche Dimension eines unter Heimweh leidenden Polen hinaus einen Schritt weiter, indem er das Zitat mit der aktuellen Situation Polens semantisch neu besetzt und zugleich als Vertreter der Polnischen Schule eine bittere Skepsis gegenüber der nationalen Tradition des romantischen Heldentums offenbart. »Die Stärke von Popiól i Diament liegt in der Art und Weise, folgenschwere historische Momente aufzugreifen, die zum erstenmal 1944 in Erscheinung traten, die 1958 noch vorhanden


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