- 153 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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auch hier regelmäßig den Tod. Szene 53 bis 57: es ist der 1. September 1939. Oskar (David Bennent) hat seinen Onkel Jan (Daniel Olbzychski) in die polnische Post in Danzig geschleift, die kurz darauf von den Deutschen belagert wird. Während Kobyella sich anstrengt, die deutschen Soldaten in Schach zu halten, erweist sich Jan als verteidigungsunfähig. In diesem Moment erklingt eine melancholisch-sentimentale Klaviermelodie, die den rhythmischen und expressiven Gestus einer typisch »Chopinschen Mazurka« trägt: sie steht in jenem charakteristischen Dreivierteltakt mit oft verschobener Betonung auf den schwachen Taktteilen. Im Ausdruck kommt sie dem langsamen stilisierten Kujawiak des 19. Jahrhunderts am nächsten: eine lyrische Melodik in Moll, einfache Motivik, häufige Triolen und Tempoverzögerungen – eine Mazurka, die sehr »polnisch tümelt«. Fälschlicherweise wurde sie bisher fast immer Chopin zugeschrieben, was auch nicht weiter verwunderlich ist, denn sie könnte tatsächlich als »vollendetes Plagiat« betrachtet werden. Es handelt sich hier jedoch um eine Komposition von Maurice Jarre. Dennoch hat der Chopinsche Gestus an dieser Stelle seine Wirkung: für Chopin stellten Mazurken musikalische Selbstgespräche und emotionale Stimmungsbilder dar, in denen er auf weitaus persönlichere Art und Weise als in seinen Polonaisen seiner Heimat Polen nahekommt. Eine introvertierte Musik, die in Polen durchaus verstanden wurde. Jarre nutzt den melancholischen Ausdruck, um einen dramaturgischen Kontrapunkt zu setzen: die Sentimentalität der Melodie kontrastiert hier auf groteske Art und Weise zu den brutalen Szenen, die sich bei der Belagerung der polnischen Post durch die Deutschen abspielen, die Betroffenheit des Zuschauers wird zudem verstärkt. Die Melodie dauert noch an, als Jan im Hof der Post Oskar verstohlen die in seiner Handfläche verborgene »Herzdame« zeigt. Ach hier funktioniert die Musik als nationales Symbol, die Chopinsche Anleihe deutet auf polnische Volkskultur und Tradition. Doch im Gegensatz zu Asche und Diamant bleibt der Chopinsche Gestus in seiner semantischen Dimension erhalten. Die Tatsache, daß Jan bis zu seiner Exekution seine »Trumpfkarte im Ärmel« behält, demonstriert in diesem Augenblick die Unantastbarkeit der nationalen Würde und Identität der Polen. Während Wajdas Aristokratie bei jener verstimmten Polonaise ihren makabren Untergang feiert, bewahren die »unter Blumen eingesenkten Kanonen« der Chopinschen Musik in Jarres Imitation ihren Gültigkeitsanspruch. So müssen die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg Chopins Musik auch tatsächlich verstanden haben, denn seine Kompositionen waren im Generalgouvernement Polen verboten. Zwar können die Deutschen in dieser Szene die polnische Post einnehmen und alle Beteiligten exekutieren, deren nationale Würde bleibt im Gegensatz zu Wajdas Film jedoch selbst im Angesicht des Todes unantastbar. Die Semantisierung des Films durch das Stilzitat bleibt somit ebenso unangetastet bestehen.95
95 In Philip Kaufmans Film Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins (USA 1987) wird die Musik des tschechischen Komponisten Leoš Janáceks ebenso zum Träger unantastbarer nationaler Identität. Vor dem Hintergrund des »Prager Frühlings« inszeniert der Regisseur die Liebesgeschichte des tschechischen Arztes Tomas (Daniel Day-Lewis) und der jungen Teresa (Juliette Binoche) zwischen privatem und politischem Leben. Janáceks Kompositionen durchziehen den gesamten Film; sie illustrieren den moralischen wie auch politischen Widerstand der Tschechen gegen die sowjetische Okkupation im Jahre 1968.

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