- 150 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Patriotismus der Gesellschaft hier zu einer grotesken schauspielerischen Leistung, hingegen erhält der Nationalismus, den Chopin in seinen Werken verkörpert, im Vergleich einen geradezu reinen und idealistischen Charakter. Es ist eine Art von nationalem Bewußtsein, das eher Maciek reflektiert. Dies zeigt sich besonders an der Parallelmontage: während die Gesellschaft zwischen »Rausch und Trümmern« ihren Abschied feiert, taumelt Maciek mehr tot als lebendig über die Müllhalde. Er, der die Art von Nationalismus – fern von kämpferischen Parolen wie Kotowicz sie ausspricht – auslebt, geht daran zu Grunde. Hier zeigt sich ein weiteres Mal Wajdas Romantizismus: Ideen wie Vaterland, Freiheit, Unabhängigkeit geraten für den Helden leicht in poetische, idealistische Dimensionen, die für ihn weniger konkrete politische als vielmehr eine große geistige Kraft darstellen. Daher scheitert er, wenn er mit den konkreten Mächten der Geschichte kollidiert. Die Tatsache, daß er im Endeffekt daran scheitert, zeigt, daß der romantische Nationalismus in Polen tot ist. Die Geschichte bietet keinen Platz für romantische Helden wie Maciek, so wird denn auch der Romantiker Chopin an dieser Stelle akustisch degradiert – letztendlich entmythologisiert. Die einstmals aristokratische Würde, die der Komponist zudem in seinen Werken verkörpert, geht durch die idealistische Verblendung der Intelligenz zuschanden. Insofern gerät Chopin hier zu einem heruntergekommenen Symbol einer einstmals nationalen Würde, die erbarmungslos dem ausweglosen Untergang geweiht ist.

Nach dem »musikalischen Schock« der Polonaise folgt sogleich der nächste auf der Montageebene. Maciek, der von der russischen Patrouille angeschossen flüchtet und die weißen Bettücher im wahrsten Sinne blutrot färbt, wird sogleich in einer grotesken Montage der tanzenden Gesellschaft gegenübergestellt. Die fünfte Einstellung erfaßt Krystyna, die im fahlen Sonnenlicht regungslos an der Bar steht. Menschen wie sie bleiben allein in den finsteren Räumen zurück. Wo sich die Szene ins Freie öffnet – beispielsweise am Anfang des Films oder bei der Flucht Macieks – herrscht der Tod. Macieks bevorstehender Tod und die donnernde Polonaise, die Wajdas Effektdramatik Rechnung tragend zwischen der vierten und fünften Einstellung in einer Parallelmontage aus »Rausch und Trümmern« zusammengezwungen werden, bekräftigt einmal mehr die Isolation der Erlebniswelten. Sie geraten hier zu einer großen Metapher für die Absurdität einer Welt, die ihre innere Logik verloren hat. Der »gigantische Reigen« gerät hier zum Todesreigen. Die Parallelmontage bewirkt, daß Wajda die Scheinwelt der Aristokraten und Bürger nun vollends auseinanderbrechen läßt. Insofern erteilt er auch dem sozialistischen Realismus eine radikale Absage, indem er den Aufbruch jener mittelständischen sozialpolitischen Struktur durch den sozialistischen Umbruch mehr als deutlich demonstriert. An dieser Stelle tritt die Neusemantisierung Chopins ein weiteres Mal offen zutage. Das Chopinsche Symbol der Nationalität wird hier zu einem Reigen aus Sterben und Stillstand. Und während sich die Polonaise ab dem Takt 56 auf ihren Höhepunkt zubewegt, wird die gesamte Szene immer grotesker. Selbst Krystyna (Liebesmotiv) wird – resigniert und willenlos – von einem Betrunkenen in den monströsen Tanz mit hineingezogen. Im Takt 75 bricht die Musik plötzlich ab, die nächste Szene zeigt Maciek, der auf der Müllhalde ziellos weiterstolpert. Indem die Musik unvermittelt abbricht, empfindet der Zuhörer eine Leere. Die mitunter intensive Erwartungshaltung, die damit verknüpft ist, nutzt Wajda, um


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