- 149 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (148)Nächste Seite (150) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

Tanzstück mit geradezu destruktiv anmutender »Durchschlagskraft«, dessen Melodie in einem dissonanten Brei zu versinken droht. Die vermeintlich nationale Gesinnung der Gesellschaft hat mit dem Nationalismus, den Chopin in seinen Werken repräsentiert, nichts mehr zu tun. Insofern erfüllt die Polonaise hier die Funktion eines ironischen Kommentars mit Ausrufezeichen, denn Chopins Nationalismus verkommt hier zu einer Art Schunkellied. Indem Wajda eine so drastische Divergenz zwischen Original und Bearbeitung der Polonaise schafft, läßt er den Zuschauer zwischen den Zeilen lesen. Durch die verheerende Orchestrierung wird dieser geradezu mit seinen Ohren auf eine neue semantische Dimension gestoßen. Wajda bietet dem Zuschauer hier das Szenarium eines Theaters, eines Welttheaters. Hier wird eine Aufführung geboten, die nur noch wenig mit den Befreiungsträumen der klassischen Bühne zu tun hat, viel aber mit dem Stück Sartres, das in demselben Jahr erscheint, welches der Film beschreibt: Geschlossene Gesellschaft. Umstellt von Wänden und Schattengrenzen, eingepfercht in käfighafte Lichtmuster und irritierende Reflexe des Tanzsaales, hat Wajdas Gesellschaft in Asche und Diamant keine Möglichkeit und auch nicht den Willen, freie und humane Entscheidungen zu treffen. Die Menschen kreisen – wie hier in der Polonaise – zwanghaft um Absichten und Ziele, die keinen emanzipatorischen Impuls mehr erkennen lassen und im Grunde ein Produkt allgemeiner Illusionen und versäumten Lebens sind, dessen romantische Rituale nur noch den Blick in die Vergangenheit eröffnen. Dies wird nicht zuletzt auch in der Perspektive wiedergegeben: die Kamera läßt keinen Raum. In fast allen Szenen der Polonaisen herrschen Totale und Halbtotale vor – die Menschen werden wie in Bunkern von Zimmerdecken niedergedrückt, die Wahl des Kameraobjektivs schafft stets eine klaustrophobische Situation. Aus Räumen und Gesichtern werden bizarre Metaphern einer diesseitigen Hölle - geschlossene Gesellschaft. Durch jene großzügigen Kameraeinstellungen – eine »Inszenierung innerhalb des Bildes« – erreicht Wajda eine große Handlungskontinuität und erlaubt dem Zuschauer, den Blick innerhalb der Szene schweifen zu lassen. Dieser stößt schnell an die Grenzen, die von der verzerrten Perspektive der Kamera gesetzt sind. Die »normale Wahrnehmung« des Zuschauers wird auf diese Weise bewußt irritiert. In dieser Hinsicht fungiert die Polonaise auch als Bildillustration im Sinne einer dramaturgisch-funktionalen Funktion (Thiel), denn die klangliche Aufbereitung der Polonaise findet ihr Pendant in jenen Licht- und Raumwirkungen des Bildes, die sich auf diese Weise in der musikalischen Struktur der Polonaise reflektieren (ebenso Prendergast). Daher interpretiert sie die Szene zugleich affirmativ, zwischen ihrer Bedeutung und ihrem Klang ergeben sich Parallelen. Während die Musik auf formaler und funktionaler Ebene demnach paraphrasierend bzw. affirmativ fungiert, wirkt sie auf den Zuschauer psychologisch jedoch wie eine Art emotionaler Kontrapunkt. Die klangliche Divergenz zwischen dem Original und der Filmfassung verhindert gleich eine Identifikation des Zuschauers mit den Leinwandfiguren. Insofern setzt Wajda auf den Mechanismus, daß vertraute Musik stärkere emotionale Zuwendung erfährt. Indem er sie jedoch schauerlich entstellt, kehrt sich die Zuwendung in Abneigung, die vielmehr ein kritischeres Bewußtsein wachruft. Wajda nutzt diese Rezeptionshaltung, um die gesellschaftliche Pointe zu formulieren. Auf diese Weise suggeriert er dem Zuschauer einmal mehr eine Art »Entwirklichung« der Figuren, die nicht zuletzt jenes »Bühnenarrangement« bestätigt. Insofern wird der zur Schau getragene

Erste Seite (i) Vorherige Seite (148)Nächste Seite (150) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 149 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik