- 146 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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In der zweiten Einstellung führt Kotowicz die Gäste der Reihe nach zu Paaren zusammen: als die Musiker das Hauptthema ein zweites Mal wiederholen, beginnt der »nationale Reigen« – eine Gruppe Betrunkener, die sich, jeweils vor ihrem Partner verbeugend, unsicheren Schrittes in einem kleinen Kreis bewegen, während die Kapelle die Polonaise lustlos und schauerlich herunterspielt. Die Vision jenes Festzuges adeliger Damen und Herren, die Chopin eines Nachts in nationaler Verzückung gehabt haben soll, während er die A-Dur-Polonaise spielte, kommt einem hier in den Sinn. Kotowicz feuert die Kapelle zu mehr »rhythmischem Schneid« an: er erscheint wie eine Witzfigur, der ehemals stolze Ausdruck von Chopins Polonaise fällt hier vollends der Situationskomik einer Slapstick-Komödie gleich zum Opfer. Dieser Eindruck verstärkt sich zugleich durch die tanzenden Damen und Herren, die versuchen, dem Takt Stand zu halten. Zwar handelt es sich hier keineswegs um die Technik des mickey-mousing, doch erhält der Gesamtkomplex der Szene durch die Darbietung aller Beteiligten etwas Künstliches. Das »Ballett der Objekte« ist durchaus durch die Fabel gerechtfertigt und verleiht der gesamten Szene zudem einen grotesken Anstrich. Was jedoch auf den ersten Blick so lächerlich wirkt, hat einen ernsten Hintergrund. Wajdas filmischer Kommentar wird erst in der dritten Einstellung deutlich. Vielleicht mögen solche Beobachtungen ad absurdum führen, doch mit dem Beginn der musikalischen Durchführung (Takt 9) wird auch die dramaturgische Ebene analysiert: der Schnitt erfolgt exakt mit dem ersten Takt der Durchführung, der Zuschauer soll den Schnitt bemerken. Maciek hat für die Gesellschaft nur einen ironischen Kommentar übrig. Diese Art von nationaler Zur-Schau-Stellung ist nicht sein Metier. Die Antwort des Portiers deutet auf Wajdas filmische Botschaft: »Es müßte nur noch in unserem guten alten Warschau sein.« An dieser Stelle wird die Absurdität der vorhergegangenen lärmenden Inszenierung, die hier lediglich noch im Hintergrund zu hören ist, aufgelöst. Wenn man sich die entstehungsgeschichtliche und die dramaturgische Anlage des Filmes vor Augen hält, so deutet an dieser Stelle alles auf Chopin hin: zunächst die nationale polnische Literatur der Romantik als Quelle der Regisseure der Polnischen Schule. Sie setzte sich mit dem »Verlust des Vaterlandes«, der langjährigen Teilung Polens auseinander – Literatur als Träger des Nationalbewußtseins. Autoren wie Mickiewicz oder Norwid waren Chopin aus seiner Pariser Zeit bekannt. In dieser Szene verwirklicht Wajda ebenso das alte romantische Prinzip: von der höchsten überspannten Euphorie setzt er mit Macieks Kommentar den Bezug zur eher hoffnungslosen Gegenwart und entlarvt damit die Inszenierung der Gesellschaft. Mit dem »guten alten Warschau« ist es nun vorbei, da Polen von den vermeintlichen »Befreiern«, den Russen besetzt ist. Die Geschichte von der Teilung Polens geht weiter. Das nationale Thema, eines der Hauptmotive Wajdas, ist in dieser Szene vorherrschend. Chopins Polonaise leistet hier den ihr eigenen politischen Kommentar – und dies sowohl in historischer als auch semantischer Hinsicht.

Die historischen Ausgangssituationen sind dieselben: sowohl im 19. Jahrhundert als auch nach dem Zeiten Weltkrieg ist Polen zu einem Land geworden, das innenpolitisch gelähmt und äußerlich bedroht ist. Die »in Blumen eingesenkten Kanonen« des Patrioten Chopin waren seine Art, musikalisch auf die Fremdherrschaft in der fernen Heimat Polen zu reagieren. Wie der Komponist auf diese Weise gegen den Zaren auftrumpfte, so bäumt sich auch Wajdas Gesellschaft ein letztes Mal gegen


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