- 145 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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– dem Zuschauer – den Rücken zu. Die übrige Gesellschaft ist im Nebel des Zigarettenqualms im Hintergrund kaum erkennbar. Was jedoch auffällt, sind weniger die Figuren im Bild, sondern die beklemmende Ausstattung der gesamten Szene: im Gegensatz zum Bildvordergrund wird lediglich das Innere des Raumes hell ausgeleuchtet, d.h. der Schmutz auf dem Fußboden, die aufgetürmten Möbel am rechten Bildrand, die Flasche auf dem Boden. So schafft Wajda sogleich Distanz, die zusätzlich durch die Totale, aus der auch die Figuren erfaßt werden, unterstützt wird. Der Einsatz ist lange vorhersehbar, die Musikquelle – hier die Kapelle – ist im Bild integriert. Demzufolge erscheint die Polonaise natürlich als Bildton oder aktuelle Musik. Wie Pauli anmerkt, sind Bildtöne Bestandteil jener Realität, die jeder Film für sich aufzubauen versucht. Erdmanns Begriff der »Incidenz« ist hier durchaus anwendbar, denn mit der Anleihe an die Episodenmusiken im Sprechtheater ist die Filmmusik von der Bühnenmusik nicht weit entfernt. Und genau dies trifft bei Wajda zu: Chopins Polonaise ist in diesem Moment eine Bühnenmusik; nicht nur die Theatralik von Kotowicz erinnert hier an eine Theaterinszenierung, auch die Perspektive: indem die Kamera aus der Dunkelheit heraus einen hellen Raum aufnimmt, wirkt die Einstellung wie die Ablichtung einer Art Guckkastenbühne. Dadurch schafft Wajda eine unbehagliche und klaustrophobische Situation, in der alle Beteiligten durch die immense Raumtiefe wie Gefangene erscheinen. Hier entsteht das Szenarium eines Theaters, Wajda kreiert ein Schauspiel in einem Film. Durch diese Doppelung verleiht er der Szene größeres Gewicht, vom Zuschauer fordert er damit geschärfte Aufmerksamkeit, die nicht zuletzt bereits durch die mehrmalige Ankündigung der Polonaise geschürt wurde.

Das Schauspiel – der »Reigen« – beginnt mit einem Trommelwirbel. Abgesehen davon erscheint das Hauptthema, die kraftvoll aufsteigende melodische Linie, zunächst in der Urform, sprich in der Klavierfassung, zu der Kotowicz mit einladend ausgestreckten Armen im Polonaisenschritt auf die Gesellschaft zumarschiert. Ab dem dritten Takt erscheint Chopins Polonaise als »Orchesterfassung« (Klavier, Violine, Trompete, Posaune, Klarinette und Schlagzeug). Erst hier (Einstellung 2) setzen die übrigen Musiker ein. Die Trompete ist besonders gut auf der typisch polnischen Wendung Superdominante-Dominante zu hören. Spätestens auf dem Spitzenton fis” zuckt der Zuschauer mit einem einigermaßen sensiblen musikalischen Gehör zusammen, denn die Trompete erklingt vollkommen dissonant – schlichtweg falsch. Während Kotowicz die Polonaise als »nationales Ereignis würdigt« und unter Bravorufen der Beteiligten die »allgemeine Eintracht proklamiert«, spielt die betrunkene Kapelle die Polonaise so schauerlich falsch, daß Chopin selbst wahrscheinlich seine Autorenschaft bestritten hätte – Wajdas schickt den Zuschauer mitten ins dramaturgische Geschehen. Diese Art der musikalischen Aufstachelung macht die Polonaise zum künstlich gesetzten dramaturgischen Mittel. Da dem Zuschauer hier ein von Wajda bewußt gesetztes Schauspiel der Gesellschaft geboten wird, ist die dramaturgische Anlage mit dem bewußten Einsatz autonomer Musik kompatibel. Insofern ist die geschlossene Form der Polonaise entgegen Adornos Ansicht hier durchaus geeignet. Seiner Meinung nach verlangen musikalische Komplexe solcher Art eine geschärfte Aufmerksamkeit vom Zuschauer – und genau dies möchte Wajda an diesem Punkt erreichen.


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