- 139 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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und Volk« sich ergänzen, so daß man von dem (Ton-)Dichter auf das Volk und umgekehrt aus dem Charakter der Nation auf die Worte des Dichters schließen konnte. Für Schumann waren Volkslieder eine Fundgrube von Melodien, die den Blick in den Charakter der verschiedenen Nationen öffnen. Insofern begrüßte er, wie sich die polnische Musik – Volksliedgut und polnische Nationaltänze – sowie die europäische Musikgeschichte in der Person Chopins vereinigten.76
76 Hans Pischner: »Die Bedeutung Chopins für Robert Schumann.« In: Lissa 1963, S. 364; vgl. auch Joachim Moser: »Chopin stilkundlich betrachtet.« In: Lissa, 1963, S. 709. Dennoch sollte man Schumanns überschwengliches Lob, das er für Chopin übrig hatte, nicht überbewerten. Chopin gehörte nicht den extrem nationalistischen Kreisen der Emigranten an und ließ sich auch nicht in die Rolle eines politischen Bannenträgers drängen. Daß Schumann die Bedeutung Chopins so überspitzt formulierte, kann auch mit der Tatsache zusammenhängen, daß er als Gründer der Neuen Zeitschrift für Musik und Kämpfer für eine neue individuelle, von der Literatur inspirierte Ausdrucksästhetik der Kunst in Chopin einen Verbündeten sah, da er in diesem den Vertreter polnischer Volkskunst erblickte. Dieses Interesse war jedoch nur einseitig und wurde von Chopin nicht erwidert; vgl. auch Winfried Kirsch: »Robert Schumanns Chopin-Bild.« Neue Zeitschrift für Musik 4 (1978) 195–200.
Zwar mögen Begriffe wie Ruhm und Patriotismus heute verdächtig wirken, so hatten sie für Chopin einen anderen Stellenwert. Denn das Nationale war, zumindest in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, noch nicht so unheilvoll nationalistisch eingefärbt, daß aus diesem Selbstbewußtsein Hochmut und aus Abgrenzung Aggression wurde. Wenn der Pole Chopin in seinen Polonaisen vom Ruhm seines Landes »erzählte« und seinen Patriotismus feierte, so berührte er seine Landsleute damit weitaus mehr als die verbotenen Aufrufe von Widerstandszirkeln. In dieser Hinsicht agierte er als eine Art musikalisches Sprachrohr und Aushängeschild seines Landes mit der Formulierungskunst eines Franzosen. Insofern entsprach Chopin bei der Funktion seiner Polonaisen wie die meisten Komponisten seiner Zeit der an Kant anschließenden Ästhetik: die Künstlerästhetik als Selbstreflexion und die subjektive Rezeptionsästhetik als Erlebniswertung bestimmten die allgemeine Musikauffassung. Obwohl die Polonaise bereits im 17. und 18. Jahrhundert ein politisch motivierter und repräsentierender Tanz war, so war es doch letztlich Chopin, der diese Tanzform mit einem Nationalismus erfüllte – und zwar in den Werken, die er seit 1831 komponiert hatte – der bis heute seinen Widerhall findet.77
77 Siepmann 1995, S. 186.
Seine immense Bedeutung bei der Geschichte dieser Gattung zeigt sich in der Tatsache, daß sie sich nach Chopin gleichsam erschöpft hat. Niemand konnte dem Komponisten auf diesem Gebiet gleichkommen, geschweige denn ihn übertreffen, so daß es nur wenigen gelang, diese Linie fortzusetzen.

Die im Film zitierte Polonaise A-Dur op. 40 Nr. 1 entstand in den Jahren 1839/40. Sie ist auch unter dem Untertitel »Militärische« bekannt und bildet eine Art Triumphmarsch im Dreivierteltakt.78

78 Lissa 1973, S. 823; vgl. auch Chominski 1980, S. 128.
In ihr spiegelt sich die optimistische Seite von Chopins patriotischen Gefühlen; sie repräsentiert einen europäischen Blick auf das heroische Polen.79
79 Thomas 1992, S. 152.
Nicht zufällig ist es die am häufigsten für Orchester transkribierte Polonaise Chopins. Da Chopin das Werk in seinen Briefen von Mallorca häufig erwähnte, nahm man ursprünglich an, er hätte diese Polonaise wie die zweite in c-Moll op. 40 dort geschrieben. Doch Niecks deutet bereits an, daß Chopin sie

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