so schreibt er in den Polonaisen politische
Essays zur Gegenwart, durchsetzt mit zuweilen melancholischer Deutung der
Zukunft72
72 Siepmann 1995, S. 186.
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und historischen Reminiszenzen. Letztere sind insofern für Chopin ungewöhnlich, da sich der
Komponist im allgemeinen programmusikalischer Assoziationen in seinen Werken enthielt, auch
wenn seine Musik eine beträchtliche Anzahl von »Programmen« und literarischen Deutungen
provozierte.73
73 Eero Tarasti: »Zu einer Narratologie Chopins.« In: Heinz-Klaus Metzger/Rainer Riehn
(Hrsg.): Musik-Konzepte 45: Fryderyk Chopin. München 1985, S. 58; vgl. auch Anthony
Newcomb: »The Polonaise-Fantasy and issues of musical narrative.« In: Rink/Samson
1994, S. 84–101.
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Zudem gab er seinen Kompositionen auch nur allgemeine Bezeichnungen wie Polonaisen,
Balladen, Préludes. So war der Hörer nicht gezwungen, sich mit Hilfe einer »literarischen
Krücke« von vornherein einer gewissen Stimmung zu unterwerfen. Letztlich – und das ist
entscheidend – sind etwaige programmatische – literarische oder historische –
Deutungen auch unerheblich, denn es geht Chopin nicht um einen konkreten
geschichtlichen Anlaß, sondern um eine paradigmatische Gestaltung des Historischen.
Zugleich sind seine Polonaisen ein Kommentar zur Gegenwart. Im Gegensatz zu
diesen späteren Polonaisen sind seine Werke aus der Warschauer Zeit noch
ganz dem Stile Oginskis verpflichtet. Erst mit dem Verlust seiner polnischen
Heimat schien Chopin jenen Reifestil der Polonaisen auszuformen, vielleicht, weil
seine Erinnerungen an Polen hier die geheimen Triebkräfte waren. In dieser
Hinsicht sind sie Siegesträume als eine Art Gegenwelt zu einer unerträglichen
politischen Realität. Seine Werke wurden auch als solche verstanden. So schreibt
Liszt:
»Seine Polonaisen [...] zählen zu seinen schönsten Eingebungen. [...] Die
energischen Rhythmen der Polonaisen Chopin’s dringen in die Nerven und
üben selbst auf den Gleichgültigsten eine elektrisierende Wirkung aus. Die
edelsten traditionellen Empfindungen des alten Polens kommen darin zur
Darstellung.«74
74 Franz Liszt: Friedrich Chopin. Frei ins Deutsche übertragen von La Mara. (= Gesammelte
Schriften, Bd. I: Friedrich Chopin, hrsg. von Julius Kapp). Leipzig 1910, S. 20.
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Zu der politischen Dimension von Chopins Polonaisen äußert sich Robert Schumann
im Jahre 1836 in einer Kritik:
»Denn wüßte der gewaltige selbstherrschende Monarch im Norden, wie in
Chopins Werken [...] ihm ein gefährlicher Feind droht, er würde die Musik
verbieten. Chopins Werke sind unter Blumen eingesenkte Kanonen. In dieser
seiner Herkunft, im Schicksale seines Landes, ruht so die Erklärung seiner
Vorzüge, wie auch die seiner Fehler. Wenn von Schwärmerei, Grazie, wenn
von Geistesgegenwart, Glut und Adel die Rede ist, wer dächte da nicht an
ihn, aber wer auch nicht, wenn von Wunderlichkeit, kranker Exentrizität,
ja von Haß und Wildheit! Solch Gepräge der schärfsten Nationalität tragen
sämtliche frühere Dichtungen Chopins.«75
75 Robert Schumann 1836, zit. n. Bourniquel 1959, S. 171.
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So stellte Schumann Chopin historisch in den Zusammenhang mit der Pariser
Juli-Revolution und dem polnischen Freiheitskampf. Er erkannte die Bedeutung
seines Polentums, seiner nationalen Rolle und seiner Beziehung zur polnischen
Volksmusik. Für ihn fanden sich die eigentlichen Zeichen der Poesie dort, wo
»Dichter
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