- 138 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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so schreibt er in den Polonaisen politische Essays zur Gegenwart, durchsetzt mit zuweilen melancholischer Deutung der Zukunft72
72 Siepmann 1995, S. 186.
und historischen Reminiszenzen. Letztere sind insofern für Chopin ungewöhnlich, da sich der Komponist im allgemeinen programmusikalischer Assoziationen in seinen Werken enthielt, auch wenn seine Musik eine beträchtliche Anzahl von »Programmen« und literarischen Deutungen provozierte.73
73 Eero Tarasti: »Zu einer Narratologie Chopins.« In: Heinz-Klaus Metzger/Rainer Riehn (Hrsg.): Musik-Konzepte 45: Fryderyk Chopin. München 1985, S. 58; vgl. auch Anthony Newcomb: »The Polonaise-Fantasy and issues of musical narrative.« In: Rink/Samson 1994, S. 84–101.
Zudem gab er seinen Kompositionen auch nur allgemeine Bezeichnungen wie Polonaisen, Balladen, Préludes. So war der Hörer nicht gezwungen, sich mit Hilfe einer »literarischen Krücke« von vornherein einer gewissen Stimmung zu unterwerfen. Letztlich – und das ist entscheidend – sind etwaige programmatische – literarische oder historische – Deutungen auch unerheblich, denn es geht Chopin nicht um einen konkreten geschichtlichen Anlaß, sondern um eine paradigmatische Gestaltung des Historischen. Zugleich sind seine Polonaisen ein Kommentar zur Gegenwart. Im Gegensatz zu diesen späteren Polonaisen sind seine Werke aus der Warschauer Zeit noch ganz dem Stile Oginskis verpflichtet. Erst mit dem Verlust seiner polnischen Heimat schien Chopin jenen Reifestil der Polonaisen auszuformen, vielleicht, weil seine Erinnerungen an Polen hier die geheimen Triebkräfte waren. In dieser Hinsicht sind sie Siegesträume als eine Art Gegenwelt zu einer unerträglichen politischen Realität. Seine Werke wurden auch als solche verstanden. So schreibt Liszt: »Seine Polonaisen [...] zählen zu seinen schönsten Eingebungen. [...] Die energischen Rhythmen der Polonaisen Chopin’s dringen in die Nerven und üben selbst auf den Gleichgültigsten eine elektrisierende Wirkung aus. Die edelsten traditionellen Empfindungen des alten Polens kommen darin zur Darstellung.«74
74 Franz Liszt: Friedrich Chopin. Frei ins Deutsche übertragen von La Mara. (= Gesammelte Schriften, Bd. I: Friedrich Chopin, hrsg. von Julius Kapp). Leipzig 1910, S. 20.

Zu der politischen Dimension von Chopins Polonaisen äußert sich Robert Schumann im Jahre 1836 in einer Kritik: »Denn wüßte der gewaltige selbstherrschende Monarch im Norden, wie in Chopins Werken [...] ihm ein gefährlicher Feind droht, er würde die Musik verbieten. Chopins Werke sind unter Blumen eingesenkte Kanonen. In dieser seiner Herkunft, im Schicksale seines Landes, ruht so die Erklärung seiner Vorzüge, wie auch die seiner Fehler. Wenn von Schwärmerei, Grazie, wenn von Geistesgegenwart, Glut und Adel die Rede ist, wer dächte da nicht an ihn, aber wer auch nicht, wenn von Wunderlichkeit, kranker Exentrizität, ja von Haß und Wildheit! Solch Gepräge der schärfsten Nationalität tragen sämtliche frühere Dichtungen Chopins.«75

75 Robert Schumann 1836, zit. n. Bourniquel 1959, S. 171.

So stellte Schumann Chopin historisch in den Zusammenhang mit der Pariser Juli-Revolution und dem polnischen Freiheitskampf. Er erkannte die Bedeutung seines Polentums, seiner nationalen Rolle und seiner Beziehung zur polnischen Volksmusik. Für ihn fanden sich die eigentlichen Zeichen der Poesie dort, wo »Dichter


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