- 137 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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zu den Préludes oder den Mazurken vergleichsweise spärlich. Hinzu kommen eine Polonaise-Fantasie (op. 61), drei postum veröffentlichte Polonaisen (op. 71) sowie sechs Werke ohne Opuszahlen, von denen die meisten früh entstanden sind. Die Darstellungen zu Chopins Polonaisen sind sich im Wortlaut recht ähnlich. Einigkeit herrscht vor allem in dem Punkt ihrer Bedeutung. An dieser Stelle sei auf eine Aussage Fellerers verwiesen: »Die schöpferische Entstehung des Musikwerks ist ein psychologischer Vorgang, verwurzelt in der individuellen Persönlichkeit des in seiner Zeit geprägten Komponisten. Diese ist in ihrer geistigen Haltung in ihrer Gesellschaft, ihrem Lebenskreis und ihrer Kultur [. . . ] begründet.«69
69 Fellerer 1984, S. 13.
Wie bei jedem Komponisten, traf dies auch auf Chopin zu. Nach einigen frühen Polonaisen in den zehner und zwanziger Jahren interessierte er sich erst ab dem Jahre 1831 – nach dem Warschauer Aufstand – wieder für diese Gattung. Seine Einstellung dazu hatte sich zu diesem Zeitpunkt grundlegend gewandelt. So schreibt Samson beispielsweise: »Diese Tanzform wurde für den an Heimweh leidenden Exilpolen zu einem sinnfälligem Symbol für seine Heimat und ganz besonders für das unterdrückte Land. Die vertrauten rhythmischen und melodischen Formeln bildeten die Brücke für eine stolze, mitunter kämpferische Erinnerung an den vergangenen Ruhm Polens. Die Polonaise, die nun nicht länger ein konventionelles Vehikel für polnisches Lokalkolorit war, diente fortan - mal sanft, mal trotzig – zum Ausdruck und zur Bekräftigung nationaler Identität. Während des 19. Jahrhunderts wurde sie sowohl in der Heimat als auch im Ausland von den Polen in diesem Sinne aufgefaßt: als ein Symbol des nationalen Kampfes, das dazu beitrug, den Geist Polens in einer Zeit zu festigen, da dieses Land politisch sozusagen nicht existierte.«70
70 Jim Samson: Frédéric Chopin. Stuttgart 1991, S. 144; vgl. auch Jim Samson: The Music of Chopin. London 1985, S. 103–104.

In Chopins Briefen, so Samson, gebe es sogar Hinweise darauf, daß er bestimmte historische Assoziationen mit seinen Polonaisen verband, so etwa ruhmreiche Ereignisse aus der polnischen Geschichte, was sich in die obengenannte Idealisierung Polens in Chopins Erinnerung zudem einfügen würde. Tatsache ist jedoch, daß der beliebte Nationaltanz bei Chopin eine ganz neue Bedeutung gewann, indem er folkloristische Elemente in Polens Musik zu einer Darstellung des Monumentalen umformte.

Chopin ist einer der ersten Komponisten, deren Werke auch politisch verstanden werden. Die Polonaisen boten ihm eine Möglichkeit, sich mit politischer Zielrichtung zu äußern. Sie stellten für Chopins Landsleute das »Lied von Ruhm, Sieg und Niederlage, von Trauer und Glück« dar. »Herrischer Stolz, eine kämpferische Attitüde, das melancholische Melos der Rückbesinnung, feurige Gestik der Lebensfreude, stoische Würde im Untergang«, »ewiges Symbol des verlorenen Vaterlandes« oder »dichterische Antwort auf die nackte Gewalt«71

71 Lotz 1995, S. 72; vgl. auch Camille Bourniquel: Frédéric Chopin in Selbstzeugnissen und Dokumenten. Hamburg 1959, S. 126–127.
– nur einige der Schlagwörter, mit denen Lotz und Bourniquel Chopins Polonaisen charakterisieren. Obwohl diese gerade einmal in vier Opera zusammengefaßt sind, verkörpern sie doch die nationale Identität eines staatenlosen Volkes. Pointiert gesagt: während Chopin in den Mazurken ein ganz persönliches Tagebuch über seine polnische Heimat führt,

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