Niemcewicz,
später auch mit Norwid, freundschaftliche Kontakte. Insofern ist das Polen, das Chopin
in seinen Kompositionen verkörpert, auch das Resultat einer geistigen Idealisierung,
eines Wunschbildes der von weither betrachteten Heimat, vergleichbar mit dem Dublin,
das James Joyce später in seinen Werken entwirft. In diese Richtung bewegt sich
auch Hunekers frühe Argumentation, wenn er sagt, daß Chopin niemals die
Gefahren des Krieges selbst kennengelernt hätte, sein »Außenleben« also der
Geschehnisse entbehrte, die das »Innenleben« des Komponisten umso mehr
bereicherten.64
64 James Huneker: Chopin. Der Mensch, der Künstler. München/Berlin 1917,
S. 3.
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Unter dem »europäischen« Einfluß idealisierte Chopin Polen im Sinne von Dahlhaus’
»nationaler Klassik«, denn trotz seines frühen Interesses für das europäische
Kunstschaffen, zeichnete sich bei Chopin ebenso so früh das Bedürfnis ab, seine Musik
um eine nationale Identität zu bereichern. Man könne sagen, so Chominski,
in Chopins Schaffen vollzogen sich zweierlei »Transformationsprozesse«: Der
eine war bestrebt, die wesentlichen Merkmale der Volksmusik nicht nur zu
betonen, sondern auch zu entwickeln, was Chopin von den einfachen Formen
fortführen mußte. Der zweite Prozeß hatte einen wechselseitigen Charakter
und bestand in der Verschmelzung der Folklore mit der ihm zugängigen
Kompositionstechnik.65
65 Józef M. Chominski: Fryderyk Chopin. Leipzig 1980, S. 170–171.
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So bemühte er sich um eine Synthese der klassischen Form mit dem Volkstanz. Mit
dieser Verbindung aus Anspruchsvollem und Gängigem schwamm er auf die Dauer gegen
den Strom der Zeit – einer Zeit, die immer mehr zwischen dem Volkstümlichen
und dem »Bedeutenden« unterscheiden sollte. In diesen Formen zeichnete sich
zugleich seine individuelle Art, die Probleme der Form und des Ausdrucks zu
lösen.66
66 Józef Michal Chominski: »Die Evolution des Chopinschen Stils.« In: Lissa 1963,
S. 45.
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Schumann bezeichnete diese Synthese als Verbindung aus
»slawischem Feuer und slawischer Weichheit« sowie »französischem
Formengeist«.67
67 Otto Schumann: Handbuch der Klaviermusik. Wilhelmshaven 1979, S. 347; vgl. auch
Anne Swartz: »Chopin as modernist in nineteenth-century Russia.« In: Rink,
John/Samson, Jim (Hrsg.): Chopin Studies 2. Cambridge 1994, S. 35–49; Jim Samson:
Chopin. Oxford 1996, S. 6.
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Insofern war Chopins Patriotismus ebenso weltbürgerlich, europäisch.
»Zeit ist’s zur Polonaise«, so heißt es am Ende von Mickiewiczs polnischem
Nationalepos Pan Tadeusz. Er beschreibt hierin den aristokratischen Tanz als
gesellschaftliche Selbstinszenierung:
»Paar hinter Paar jeweils schreitet daher, gar prächtig und fröhlich, Bald
öffnet weit sich der Kreis und schließt sich dann wieder zusammen Wie
eine Schlange, die sich in tausend Windungen schlängelt. Vielfältig schillern
getüpfelt die bunten Farben der Trachten All der Damen, der Herren, der
Soldaten wie schillernde Schuppen, Von den Strahlen vergoldet der untergehenden
Sonne, Widergespiegelt vom dunklen Grün der Pfühle des Rasens. Heiß braust
der Tanz, es rauscht die Musik, das Klatschen, die Vivats!«68
68 Adam Mickiewicz: Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen. Nachdichtung von
Hermann Buddensieg. München 1963, S. 322.
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Mickiewicz beschreibt hier nicht nur ein romantisches Bild von Polen, sondern er
verbindet die Polonaise ebenso mit der polnischen Geschichte, mit dem Wechsel von
Teilungen und Aufständen. Zu Lebzeiten hat Chopin unter den Opuszahlen 26, 40, 44
und 53 gerade mal sechs Polonaisen veröffentlicht – im Gegensatz
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