- 136 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Niemcewicz, später auch mit Norwid, freundschaftliche Kontakte. Insofern ist das Polen, das Chopin in seinen Kompositionen verkörpert, auch das Resultat einer geistigen Idealisierung, eines Wunschbildes der von weither betrachteten Heimat, vergleichbar mit dem Dublin, das James Joyce später in seinen Werken entwirft. In diese Richtung bewegt sich auch Hunekers frühe Argumentation, wenn er sagt, daß Chopin niemals die Gefahren des Krieges selbst kennengelernt hätte, sein »Außenleben« also der Geschehnisse entbehrte, die das »Innenleben« des Komponisten umso mehr bereicherten.64
64 James Huneker: Chopin. Der Mensch, der Künstler. München/Berlin 1917, S. 3.

Unter dem »europäischen« Einfluß idealisierte Chopin Polen im Sinne von Dahlhaus’ »nationaler Klassik«, denn trotz seines frühen Interesses für das europäische Kunstschaffen, zeichnete sich bei Chopin ebenso so früh das Bedürfnis ab, seine Musik um eine nationale Identität zu bereichern. Man könne sagen, so Chominski, in Chopins Schaffen vollzogen sich zweierlei »Transformationsprozesse«: Der eine war bestrebt, die wesentlichen Merkmale der Volksmusik nicht nur zu betonen, sondern auch zu entwickeln, was Chopin von den einfachen Formen fortführen mußte. Der zweite Prozeß hatte einen wechselseitigen Charakter und bestand in der Verschmelzung der Folklore mit der ihm zugängigen Kompositionstechnik.65

65 Józef M. Chominski: Fryderyk Chopin. Leipzig 1980, S. 170–171.
So bemühte er sich um eine Synthese der klassischen Form mit dem Volkstanz. Mit dieser Verbindung aus Anspruchsvollem und Gängigem schwamm er auf die Dauer gegen den Strom der Zeit – einer Zeit, die immer mehr zwischen dem Volkstümlichen und dem »Bedeutenden« unterscheiden sollte. In diesen Formen zeichnete sich zugleich seine individuelle Art, die Probleme der Form und des Ausdrucks zu lösen.66
66 Józef Michal Chominski: »Die Evolution des Chopinschen Stils.« In: Lissa 1963, S. 45.
Schumann bezeichnete diese Synthese als Verbindung aus »slawischem Feuer und slawischer Weichheit« sowie »französischem Formengeist«.67
67 Otto Schumann: Handbuch der Klaviermusik. Wilhelmshaven 1979, S. 347; vgl. auch Anne Swartz: »Chopin as modernist in nineteenth-century Russia.« In: Rink, John/Samson, Jim (Hrsg.): Chopin Studies 2. Cambridge 1994, S. 35–49; Jim Samson: Chopin. Oxford 1996, S. 6.
Insofern war Chopins Patriotismus ebenso weltbürgerlich, europäisch.

»Zeit ist’s zur Polonaise«, so heißt es am Ende von Mickiewiczs polnischem Nationalepos Pan Tadeusz. Er beschreibt hierin den aristokratischen Tanz als gesellschaftliche Selbstinszenierung: »Paar hinter Paar jeweils schreitet daher, gar prächtig und fröhlich, Bald öffnet weit sich der Kreis und schließt sich dann wieder zusammen Wie eine Schlange, die sich in tausend Windungen schlängelt. Vielfältig schillern getüpfelt die bunten Farben der Trachten All der Damen, der Herren, der Soldaten wie schillernde Schuppen, Von den Strahlen vergoldet der untergehenden Sonne, Widergespiegelt vom dunklen Grün der Pfühle des Rasens. Heiß braust der Tanz, es rauscht die Musik, das Klatschen, die Vivats!«68

68 Adam Mickiewicz: Pan Tadeusz oder Die letzte Fehde in Litauen. Nachdichtung von Hermann Buddensieg. München 1963, S. 322.

Mickiewicz beschreibt hier nicht nur ein romantisches Bild von Polen, sondern er verbindet die Polonaise ebenso mit der polnischen Geschichte, mit dem Wechsel von Teilungen und Aufständen. Zu Lebzeiten hat Chopin unter den Opuszahlen 26, 40, 44 und 53 gerade mal sechs Polonaisen veröffentlicht – im Gegensatz


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