- 135 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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ein Dokument, in dem Chopin nach der Niederschlagung des polnischen Aufstandes so offen wie nirgendwo sonst radikal sein Innenleben offenbart. Hier äußert sich die Phantasie eines ganz offensichtlich hypersensiblen Menschen und überträgt sich in eine vollkommen überdrehte Sprache: »Ein Leichnam ist so bleich wie ich. Er ist auch allem gegenüber so kalt, wie ich es jetzt bin. [...] Was ist [...] das Übelste? – Das Geborenwerden, denn es ist das Gegenteil dieses Besten. Ich habe also guten Grund, zu bedauern, daß ich auf die Welt gekommen bin. Warum hat man mir nicht vergönnt, nicht geboren zu werden, wenn ich doch hier untätig bin? Wozu ist mein Dasein nütze? Ich bin zu nichts gut unter den Menschen, denn ich habe weder Kräfte noch Worte. [...] Mutter, süße, duldende Mutter, du hast deine Tochter überlebt, um den Moskowiter über ihre Gebeine trampeln zu sehen. [...] Oh, warum ist es mir nicht gegönnt worden, wenigstens einen dieser Moskowiter zu töten!«59
59 Chopin, Stuttgarter Tagebuch, September 1831, zit. n. Reich 1985, S. 89–93.

Zeugnisse solcher Art sind bei Chopin jedoch eher spärlich, da er sich selten emotionale Ausbrüche gestattete. Lotz merkt zudem an, daß das Stuttgarter Tagebuch eines der wenigen Dokumente ist, in dem sich Chopin auf diese überdreht emotionale Art äußerte. Seine hysterische Reaktion auf die Niederschlagung des Aufstandes war für ihn wohl eine Art Schlüsselerlebnis an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Sein Blickwinkel der Umwelt, aber auch sich selbst gegenüber hatte sich geändert. Fortan demonstrierte er ein anderes Bewußtsein für Polen und seine eigene tief verwurzelte polnische Abstammung, die ihn zum Patrioten machte.60

60 Jeremy Siepmann: Chopin. The Reluctant Romantic. London 1995, S. 81–82.
Zudem mußte er akzeptieren, daß er nun nach seinem Abschied von Polen auf sich allein gestellt war. Er nahm diese Lehre an und wurde zu einem mehr oder weniger »disziplinierten Melancholiker«.61
61 Lotz 1995, S. 50/10.
Woran er litt oder was ihn bedrängte oder freute, das formulierte er selten auf dem Papier, sondern vielmehr in seiner Musik. Insofern sollten Aussagen obengenannter Art auch nicht überbewertet werden. Chopin lehnte den mystischen Patriotismus beispielsweise eines Adam Mickiewicz ab. Er war durchaus Nationalist, jedoch nicht im Sinne eines polnischen Bannenträgers, sondern eher auf eine zuweilen etwas bornierte Art, wenn er schreibt: »Ich bin doch ein echter blinder Masowier.«62
62 Chopin, Brief an seine Familie vom 18. bis 20. Juli 1845, zit. n. Krystyna Kobylanska (Hrsg.): Frédéric Chopin: Briefe. Frankfurt am Main 1984, S. 228.
Ebenso war er Patriot: »Du weißt, wie sehr ich mich bemühte«, so in einem Brief an seinen Freund Tytus, »unsere nationale Musik zu erfühlen, und zum Teil ist es mir auch gelungen.«63
63 Chopin, Brief an Tytus Woyciechowski vom 25. Sezember 1831, zit. n. Kobylanska 1984, S. 138.
Und dies nicht nur zum Teil, denn seine Fähigkeit, mit seiner Nation »zu leiden«, fand hier ihren sublimsten Ausdruck. Dennoch: er lebt in Warschau im Kreise der Seinen, immer im gleichen Milieu. Obwohl sein endgültiger Abschied von Polen nicht politischer Natur war, lebte er in Paris doch ganz im Geiste der Emigration, deren kulturelles Zentrum sich in Paris etabliert hatte. Er war ein Mittelpunkt der Emigrationszirkel und pflegte mit den bedeutendsten Exilanten wie Adam Mickiewicz und Julian

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