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mit äußerer Bedrohung – das ist die klassische Konstellation für den Niedergang eines Staates. Und dies traf auch in Polen zu. Die Zeit zwischen 1788, als sich Chopins Vater Nicolas in Warschau niederließ, und 1848, als Chopin in Paris starb, dokumentiert eine Familiengeschichte, die mit der Geschichte Polens aufs engste verknüpft ist.55
55 Lotz 1995, S. 7; vgl. auch Bernard Gavoty: Chopin. Tübingen 1974, S. 24–27.
Der Widerstandsgeist gegen die jahrhundertelangen Besatzer blieb in Polen auch im 19. Jahrhundert erhalten. Hier war das Leben in den bürgerlichen und adeligen Salons nicht nur eine gesellschaftliche Manifestation des wirtschaftlichen Wohlstandes, sondern auch ein Ort der Formung der nationalen Gesellschaft, ein Ort der Konzentration des nationalen Protestes und des Widerstandes. Chopin bewegte sich frühzeitig in diesen Kreisen. Nach der vierten Teilung Polens im Jahre 1815 setzte eine Emigrationswelle ein. Die geistige Elite floh nach Berlin, London, vor allem nach Paris. Auch Chopin verließ 1830 Warschau und ging zunächst nach Wien – jedoch weniger aus politischen als aus beruflichen Gründen. Im selben Jahr brach in Paris die Juli-Revolution aus, die Funken sprangen auch auf das Pulverfaß Polen über. Ein eher unbeholfener Versuch, den Großfürsten Konstantin zu ermorden, löste jenen Aufstand aus, in dem sofort die Hoffnung gärte, sich endlich vom Joch der Fremdherrschaft zu befreien. Die Auseinandersetzungen zwischen Chopin und Tytus Woyciechowski, seinem Jugendfreund, der ihn nach Wien begleitet hatte, müssen stürmisch gewesen sein, denn Tytus war ein überzeugter Patriot. Er reiste in die Heimat zurück, um sich den Aufständischen anzuschließen. Chopin zögerte zunächst; er bedachte seine »patriotische Pflicht«, klagte in Briefen an seinen Freund Jan Matuszynski in seitenlangen Monologen und strapazierte seine Phantasie: »Ich würde gern für Dich sterben, für Euch! Warum bin ich jetzt so verlassen? Ihr habt wenigstens das Glück, in einem so schrecklichen Augenblick vereint zu sein! Deine Flöte wird etwas zu stöhnen haben, doch vorher soll auch mein Klavier stöhnen! [...] Du ziehst in den Krieg. Kehr als Oberst wieder! Möge alles für Euch gut ausgehen! – Wenn ich doch wenigstens als Trommler dienen könnte!«56
56 Chopin, Brief an Jan Matuszynski vom 29. Dezember 1830, zit. n. Willi Reich (Hrsg.): Frédéric Chopin: Briefe und Dokumente. Zürich 1985, S. 78–79.

Nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes wurde Chopin 1831 in Paris seßhaft. Doch war er hier aufgrund seiner französischen Abstammung väterlicherseits kein Emigrant wie viele seiner Freunde, auch wenn er sich selbst stets mit der Emigration identifizierte. Seine persönliche Präferenz, und darauf wird stets hingewiesen, war unzweideutig. Er wurde immer als ein »Kind Warschaus« bezeichnet.57

57 Jaroslav Jiránek: »Beitrag zum Vergleich des Klavierstils von Fryderyk Chopin und Bedrich Smetana.« In: Lissa, Zofia (Hrsg.): The Book of the First International Musicological Congress Devoted to the Works of Frederick Chopin. Warschau 1963, S. 305.
So schrieb er denn 1831, nachdem er von der Niederschlagung des Aufstandes erfahren hatte, in einem Brief an seinen Freund Tytus: »Gott, mein Gott, schicke ein Erdbeben, daß es die Menschen dieses Jahrhunderts verschlinge! Und die furchtbarsten Qualen mögen die Franzosen heimsuchen, die uns nicht zu Hilfe gekommen sind!«58
58 Chopin, Stuttgarter Tagebuch, September 1831, zit. n. Reich 1985, S. 94. Bruchstücke dieser Notizen finden sich seit ihrer ersten Bekanntgabe durch den Grafen Stanislaus Tarnowski (in polnischer Sprache, 1871) in fast allen Chopin-Biographien; der oben wiedergegebene Text basiert auf der erst 1953 in Paris veröffentlichten vollständigen Version.
Zu dieser Zeit entsteht auch das Stuttgarter Tagebuch,

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