Volksgeistes insofern
verwirrend ist, als daß es sich bei dem Nationalismus im 19. Jahrhundert gerade
nicht um das nationale Bewußtsein der Unterschichten handelte, sondern um ein
bürgerliches Phänomen. 1974 faßt Dahlhaus seine Ausführungen folgendermaßen
zusammen:
»Das Phänomen des musikalischen Nationalstils ist also im 19. Jahrhundert
mit der Idee des Nationalismus – mit der Hypothese vom Volksgeist als
wirkender und hervorbringender Energie und Substanz – so eng verquickt,
daß ein Versuch, die ›stilistischen‹ Momente von den ›ideologischen‹ streng
zu trennen, vergeblich und unangemessen wäre.«51
Musikalisch gesehen ist es in der Tat immer noch schwierig, die nationale Substanz eines musikalischen Stils mit greifbaren Kriterien dingfest zu machen. Prekär sei besonders, so merkt Dahlhaus später an, daß offenbar das nationale Element, ebenso wie das programmatisch-poetische, zu den Qualitäten gehört, die zwar ästhetisch durchaus real sind, aber dem Gegenstand eher geschichtlich zuwachsen, und zwar durch eine Bündelung von Ereignissen und Umständen. Am Extremfall einer national geprägten Musik, den Nationalhymnen, ließe sich am deutlichsten zeigen, daß das musikalisch Nationale keine von dessen Ursprung her haftende, sondern eine Eigenschaft ist, die in einem geschichtlichen Prozeß entstanden ist. Die Ungewißheit des Individuellen im Nationalen, die Motivierung von außen durch ein politisches Bedürfnis und die letztlich geringe Tragfähigkeit von Anleihen bei der Folklore – faßt man dies zusammen, so liegt der Versuch nahe, das Nationale vielmehr als Funktions- denn als Substanzbegriff aufzufassen. Dies besagt im Grunde nichts anderes, als daß die Herdersche These vom Volksgeist als verborgenem Akteur der Geschichte verblaßt und das Nationale weniger ethnisch oder melodisch-rhythmisch denn vielmehr als geschichtliche Funktion erscheint, in der ästhetische und politische Momente ineinander übergehen.52 So hatten folkloristische Elemente in der Musik des 19. Jahrhunderts eine nationale Bedeutung, weil sie – funktional gesehen - unter diesem Gesichtspunkt gehört wurden und auch gehört werden sollten. Je nach der »Einstellung«, d.h. der geistigen Strömung der Zeit, wurde und wird Musik noch immer erlebt. In dieser auf das Individuum bezogenen Rezeption gewann die Musik im 19. Jahrhundert ganz unterschiedliche Richtungen, von denen eine das Nationalkolorit war. Damit ist die Idee des Nationalen in der Musik eine Kategorie, die geschichtlich aus ihrer Funktion heraus verstanden werden muß. Da Musik sich nicht im akustischen Substrat erschöpft, sondern ein Resultat geschichtlicher Formung ist, sind die hier zur Debatte stehenden Kategorien wie Politik oder Nationalgefühl, die in die musikalische Wahrnehmung bestimmend eingreifen, auch dann ästhetisch »real«, wenn sie ihre Wirksamkeit weniger einer musikalischen Fundierung als einer geschichtlich zugewachsenen Assoziation verdanken. »Spezifisch polnische Musikelemente« beispielsweise schließen nicht aus, daß diese in der Folklore anderer Nationen ebenso wiederkehren. Dahlhaus bewertet den polnischen Nationalismus der ersten Jahrhunderthälfte als »europäisch«, sprich weltbürgerlich. Dabei sollte das Nationale im Universalen, Weltbürgerlichen aufgehen, ohne jedoch davon ausgelöscht zu werden.53Wie steht es nun mit dem Nationalismus bei Chopin, speziell in seinen Polonaisen? Es kann keinen Zweifel an der Authentizität an Chopins Auseinandersetzung mit der »polnischen Frage« geben, so meint Samson.54 Um den nationalen Gedanken bei Chopin nachvollziehen zu können, muß man sich die politische Lage im Polen des 19. Jahrhunderts vor Augen halten. Innenpolitische Lähmung kombiniert |