Nie unterlag er der
allgemeinen Mode, das Virtuosentum zur Rolle autonomer musikalischer Werte zu
erheben. Die Klaviermusik war für ihn nahezu die einzige Form seiner kompositorischen
Aussage. So blieb er stets auf den musikalischen Ausdruck bedacht, nie auf den rein
äußerlich pianistischen Effekt. Diese Einstellung gab ebenso den Ausschlag für die
Bedeutung seiner Polonaisen.
In diesen wird »der Geist Polens beschworen«, so formuliert es
Lotz.45
45 Jürgen Lotz: Frédéric Chopin. Reinbek 1995, S. 72.
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Zwischen der Französischen Revolution und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde
der Nationalismus zur herrschenden Idee: die Überzeugung, daß es die Nation sei – und
nicht die Konfession, die Dynastie oder die Klasse, der man die primäre Loyalität
schulde. Die nationalstaatliche Entwicklung in Europa hatte ebenso einen nationalen
Ausdruck der Musik zur Folge. Diese erscheint fast immer als Ausdruck eines politisch
motivierten Bedürfnisses, das eher in Zeiten der erstrebten, verweigerten oder
gefährdeten als der erreichten oder gefestigten Selbständigkeit hervortritt. Und ein
Zyniker, so Dahlhaus, könne behaupten, daß der Drang, sich auch musikalisch
der eigenen nationalen Identität zu vergewissern, das Objekt findet, das er
braucht: Musik von Rang, die in einer werdenden Nation entsteht, wird als
Nationalmusik begriffen, weil sie einem Verlangen nach musikalischem Nationalbesitz
entgegenkommt.46
46 Carl Dahlhaus: Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 6: Die Musik des 19.
Jahrhunderts. Wiesbaden 1980, S. 31.
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Besonders deutlich ausgeprägt war der musikalische Nationalismus
folglich in den Ländern, die unter politischer Abhängigkeit
litten.47
47 Karl Gustav Fellerer: Studien zur Musik des 19. Jahrhunderts, Bd. 1: Musik und
Musikleben im 19. Jahrhundert. Regensburg 1984, S. 17.
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In seiner musikästhetischen Untersuchung zur Idee des Nationalismus in der Musik des 19.
Jahrhunderts betont Dahlhaus, der Nationalismus in dieser Zeit müsse sowohl hinsichtlich seiner
Absichten und Rezeption wie auch in bezug auf die musikalische Substanz betrachtet
werden.48
48 Carl Dahlhaus: Zwischen Romantik und Moderne. Vier Studien zur Musikgeschichte des
späteren 19. Jahrhunderts. München 1974, S. 75.
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Zweifellos kommt der Volksmusik bei der Idee des Nationalismus eine beträchtliche
Bedeutung zu. Dahlhaus erinnert daran, daß man im 19. Jahrhundert beim
Rückgriff auf die Volksmusik ihren regionalen und sozialen Charakter in
einen nationalen umformte, was Herders »Volksgeist-Hypothese« bestätigen
würde,49
nach der es der »Volksgeist« sei, der in der Kunst wie in anderen Tätigkeiten des Menschen das
eigentlich fundamentale, produktive und weitertreibende Moment bilde: die Vorstellung also,
daß beispielsweise der norwegische Volksgeist in Edward Grieg zu musikalischem Ausdruck
drängte und nicht etwa umgekehrt, daß Grieg als Individuum etwas hervorbrachte, das als
charakteristisch norwegisch empfunden wurde. Dabei werde die musikgeschichtliche Funktion
der Volksgeist-Hypothese jedoch grob verkannt, so Dahlhaus, wenn das folkloristische
Moment allzusehr in den Vordergrund gerückt werde. Für das 19. Jahrhundert sei
vielmehr die Vorstellung charakteristisch, daß der nationale Geist, der sich lediglich
auf einer ersten Stufe in der Volksmusik äußert, schließlich eine nationale Klassik
hervorbringt.50
Das Bekenntnis zur Folklore und das zur Klassik ergänzen sich somit anstatt sich zu
widersprechen. Die Klassik erscheint als »vollendeter Ausdruck« einer nationalen Gesinnung, die
zunächst in der Volksmusik besonders als Opposition gegen politische Unterdrückung Gestalt
annahm. Hier muß jedoch angemerkt werden, daß der Terminus des
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