- 130 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Polonaise wird ein auf die Ausweglosigkeit allen Handelns fixiertes Verhältnis zur Geschichte offenbar, dem sich alle Betroffenen wie in einem Trauma nicht entziehen können. Somit erhält Oginskis ursprünglich nationaler Symbolcharakter durch die Konfrontation mit Wajdas Aristokratie den antiquierten Beigeschmack eines Relikts, denn nationale Gesinnung ist in dem Polen, das Wajda in seinem Film charakterisiert, nicht mehr gefragt. Damit gipfelt Wajda letztlich auch in der Entmythologisierung der Romantik im 20. Jahrhundert und offenbart so ein kritisches Gegenwartsverständnis.

Diese Szene steht in enger Korrespondenz zu einer der letzten Szenen in Wyspianskis Drama Wesele (Die Hochzeit, 1901), wie Michalek hervorhebt. Die gespenstische Polonaise in Asche und Diamant scheint ihr Urbild in dem monotonen Tanz der wie gelähmt wirkenden Hochzeitsgäste innerhalb eines abgesteckten Kreidekreises am Ende des Theaterstücks zu haben, das Wajda vierzehn Jahre später verfilmt. So zitiert er in dieser Szene auch sich selbst. Durch die enge Verbindung zwischen Asche und Diamant und Wyspianskis Wesele offenbart Wajda die zweite literarische Epoche, auf die er sich innerhalb der filmischen Dramaturgie bezieht: es ist das »Junge Polen« der Jahrhundertwende und seine neuromantischen, symbolistischen Schriftsteller, so etwa in erster Linie Stanislaw Wyspianski und Stefan Zeromski (1864–1925).41

41 Vgl. auch Milosz 1981, S. 266/285–287; Krejcí 1958, S. 414/424; Czerwinski 1994, S. 446.
Sowohl in Wyspianskis Stück als auch in Wajdas gleichnamigen Film ist der Tanz in der letzten Szene eine Art pomp funèbre in bleierner Trance, voller Chiffren, Symbole und allegorischer Figuren auf die nationale Vergangenheit, letztlich die Misere Polens. Sulik charakterisiert die letzte Szene des Dramas folgendermaßen: »It is, however, commonly taken to express the political impotence of the intelligentsia, their inability to break out of the circle of self-indulgently romantic and sentimental ideas, and to give a sense of direction and true leadership to the peasant masses. It is a pointed comment on the persistance of certain national, and, indeed, class attitudes in Poland, that over half a century later, in a radically changed social and political situation, similar themes should recur with undiminished power.«42
42 Boleslaw Sulik: »War and History: 1954–8.« In: McArthur 1970, S. 27–28.

Das Leichenhafte dieser »Prozession« deutet bereits Macieks Tod an, der nach seinem Amoklauf auf einer (auch symbolischen) Müllhalde stirbt. Seine amokgleiche Flucht wird zweimal unterbrochen durch jene grotesken Szenen, die die Polonaisen der betrunkenen Aristokraten und Bürger zum Gegenstand haben. Damit hält sich Wajda an ein uraltes Kunstprinzip: der Kontrast als zugleich aufreizende Verstärkung und harmonische Bindung des Widersprüchlichen und Heterogenen. Auf der einen Seite ist Maciek, der aus Solidarität gegenüber der Organisation letztlich den Tod in Kauf nimmt, auf der anderen Seite jene Opportunisten, welche die immer wieder gestellte Frage der Prinzipientreue und ihrer Sinnhaftigkeit aufwerfen und zugleich beantworten: beide sind in dieser Gesellschaft nichts mehr wert, sie werden dem Helden zum Verhängnis. Derart realistische Bilder zur nationalen Vergangenheit Polens haben Wajda letztlich wohl den Ruf eines Pessimisten eingetragen. Anhand der Schlußszene bleibt kein Zweifel mehr, wie das Urteil des Regisseurs


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