- 126 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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In der Literatur wird immer wieder auf Norwids Musikalität hingewiesen, die sich besonders auf die Form seiner Gedichte auswirkte. Er wurde zum Verfechter freier Verse, in denen er den musikalischen Rhythmus der polnischen Sprache nutzte. Zudem definierte er Kunst als den Dialog der Volksphantasie verbunden mit der »erlernten« Phantasie des Künstlers: »Der beste Musiker ist das Volk, und seine feurige Zunge der Komponist«, der aus der Volksmusik eine Kunst macht, die mehr als national, nämlich universell ist. Chopin war für Norwid das Ideal des Komponisten. Er beobachtete Chopin bis in die letzten Tage seines Lebens. Er schilderte ihn und seine Kunst in einigen Werken sowohl in Vers wie auch in Prosa, beispielsweise in dem berühmten Gedicht Chopins Fortepiano. Darin bemüht er sich, den Kontrast zwischen dem »Wunder« von Chopins virtuosem Spiel und der brutalen Szene zu erfassen, in der zur Zeit des Warschauer Aufstandes von 1863 die zaristische Polizei Chopins Klavier aus dem Fenster eines demolierten Palastes warf, aus dem auf einen hohen zaristischen Würdenträger geschossen worden war.

Das Fragment Hinter den Kulissen: Tirteus (Za kulisami: Tyrtej), aus dem Wajda zitiert, ist ein Theaterstück in einem Theaterstück: bei einem Maskenball plappert die Gesellschaft in einem Salon, während in einem anderen eine griechische Heldentragödie aufgeführt wird. Die Tragödie fällt durch, die Gesellschaft hat kein Verständnis für Helden. Norwid will hier den Verfall des 19. Jahrhunderts zeigen und dem prahlenden Helden den stillen, heimlichen gegenüberstellen. Da Wajda als Regisseur der Polnischen Schule zu der Generation gehörte, deren Phantasie durch die literarische Symbolik und die emotionalen Linien der Romantik beherrscht wurde, ist es nicht weiter verwunderlich, wenn er diese Quelle in die Dramaturgie seines Films einfließen läßt. Obwohl Norwid zeit seines Lebens als Emigrant im Ausland gelebt und Polen nie wiedergesehen hatte, ist es doch das polnische Thema, die Volkskultur und die Geschichte des Landes, die seine Literatur prägte. Die nationale Aufgabe des Landes in einer Zeit, in der Polen bereits einige Aufteilungen hinter sich hatte, schlägt auch bei Wajda wieder durch. Indem er das Land am Tage des »kommunistischen Aufbruchs« aus einer mittlerweile historischen Perspektive erfaßt, spiegelt er jene nationale Stimmung wieder, die die Menschen an diesem Tage bewegten. Dabei legt er – wie Norwid – Wert auf das Problem von Mensch und Geschichte, ein übergeordneter Ansatz der Polnischen Schule: die Geschichte Polens wird dargestellt mit all ihren Konsequenzen für das Individuum. Die Quelle sind kulturelle Erfahrungen. So kann Wajda denn auch aus einem Abstand von dreizehn Jahren ein »historisches« Thema aufgreifen – das Ende des Krieges und den Beginn der kommunistischen Umwälzungen. Die Folgen für das Individuum, das in der Figur des Maciek sogar eine ganze Generation verkörpert, sind im Jahre 1958 sichtbar: Der allgemeine Werteverfall der jungen Generation, der sich durch die politischen Umbrüche in der Ära Gomulka vollzog, ist mit jenem Werteverlust kompatibel, der Macieks Generation im Film widerfährt. Festzuhalten bleibt, so faßt Eder zusammen, daß Wajdas Filme von einer polnischen Mythologie durchtränkt sind, die ihren Ursprung auch in der literarischen Romantik und deren patriotischen, von Polen manchmal geradezu messianisch besessenen Helden hat.38

38 Eder 1980, S. 119.
Insbesondere die Bedeutung, die eine Idee von Polen in Asche und Diamant hat, läßt sich auf die Romantik, in diesem Falle auf Norwid, zurückführen – eine historische Periode, in der es Polen als Staat und eigenständige Nation nicht gab, dafür aber den umso vehementeren literarischen Traum und Entwurf, die umso ausgeprägtere Vision von Polen.

Norwids Zitat klärt den Zuschauer über Sinn und Herkunft des Filmtitels auf, den Wajda vom gleichnamigen Roman übernommen hat. Die Welt und deren Werte


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