- 125 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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und die auch das Publikum von 1958 versteht. Und hierin könnte auch Wajdas Aussage liegen: er charakterisiert eine Gesellschaft, die an diesem Tage nichts anderes will als sich amüsieren, während sich in anderen Räumen des Hotels tiefergreifende Konflikte abspielen. So schemenhaft die bürgerliche Gesellschaft an dieser Stelle erscheint, so verschwommen und unklar ertönt auch die sie charakterisierende Unterhaltungsmusik im akustischen Getümmel des Hotels. Insofern geht die Rolle der »Ohrwürmer« hier über die Funktion des Hintergrundfüllsels hinaus; sie tragen deutlich zur Milieu- und Charakterstudie der von Wajda gezeichneten Gesellschaft bei, die in einer grotesken Verzerrung über die »Zukunft des Landes« lärmt.

Wie der moderne Mensch Glauben und Leben an eine ideologische Regie verliert, illustriert Wajda dann auf abstrakte Weise in Szene 19: die Polizei fragt einen jungen verhafteten Verschwörer nach seinem Alter. Bitterböse Antwort: »100.« Darauf ein Schlag ins Gesicht und noch einmal auf dieselbe Frage: »101 ...« Gewalt rafft die Erfahrungen, der Mensch wird alt vor seiner Zeit. Anhand dieses jungen Herren, der sich später als Szczukas Sohn Marek herausstellt, demonstriert Wajda das Prinzip seiner Regie, das bezeichnend für die Polnische Schule ist und ihm sooft als Pessimismus angekreidet wird: er läßt kein neues Lebensgefühl aufkommen. Er beschränkt sich auf die kommentarlose Darstellung und bleibt somit ambivalent: er verurteilt nicht, aber er beschönigt auch nicht die historischen Tatsachen. Auch die Liebe zwischen Maciek und Krystyna vermag sich nicht von ihrem vergifteten Hintergrund zu lösen. In Szene 20 offenbart Wajda zum ersten Mal deutlich seinen Hang zur Epoche der Romantik und seine Affinität zur literarischen Tradition Polens. Als Maciek und Krystyna sich bei dem Regenschauer in einer Kapelle unterstellen, entdeckt Krystyna eine Grabinschrift: Und immer wieder entflammst du in dir
wie eine Pechfackel lohenden Zunder,
und brennend fragst du, ob größere
Freiheit dir wird, oder ob alles, was dein,
zuschanden gehn soll. Ob Asche nur bleibt
und Staub, der mit dem Wind vergeht?
Oder ob auf der Asche Grund
strahlend ein Diamant erscheint,
der Morgen des ewigen Sieges...36

36 Cyprian Norwid: Hinter den Kulissen: Tirteus, zit. n. Eder 1980, S. 111.

Es handelt sich um ein Zitat aus dem Theaterstück Hinter den Kulissen: Tirteus von Cyprian Norwid, das auch Andrzejewskis Romanvorlage vorangestellt ist und dem Film seinen Titel gibt. Wajda bezieht sich damit auf die polnische Romantik des 19. Jahrhunderts, zu deren Hauptvertreter besonders Adam Mickiewicz (1798–1855), Juliusz Slowacki (1809–1849), Zygmunt Krasinski (1812–1859) und – aus heutiger Sicht – schließlich auch Cyprian Norwid gehören.

Exkurs: Cyprian Kamil Norwid (1821–1883)

Dichter, Maler, Zeichner, Bildhauer. 1840 veröffentlicht er einige Gedichte, in denen er sich mit jener Generation identifiziert, die nach dem Scheitern des Novemberaufstandes (1831) aufwächst. 1849 geht er nach Paris, wo er schnell Kontakt zu berühmten Emigranten wie Mickiewicz und Slowacki sowie Chopin oder Zaleski findet. Heute sehen Literaturwissenschaftler in ihm das Bindeglied zwischen den großen polnischen Romantikern und der Neuromantik des »Jungen Polen«.37

37 Czeslaw Milosz: Geschichte der Polnischen Literatur. Köln 1981, S. 220; vgl. auch Karel Krejcí: Geschichte der polnischen Literatur. Halle/Saale 1958, S. 288; Edward J. Czerwinski (Hrsg.): Dictionary of Polish Literature. Westport/London 1994, S. 296–297.

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