- 123 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
  Erste Seite (i) Vorherige Seite (122)Nächste Seite (124) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 

und erlebte ihre letzte Blütezeit in der Republik Polen, die mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges zu Ende ging – Wajdas Hommage an die literarische Dekadenz des »Fin de siècle«. Der Verfall alter Kulturen zum Ende des 19. Jahrhunderts ist mit dem Niedergang der polnischen Aristokratie und des Großbürgertums in Asche und Diamant vergleichbar.

Das Motiv der Einsamkeit und Isolation der Erlebniswelten kehrt nicht zufällig im Arrangement der drei Gedenkfeiern wieder, die in der folgenden Nacht vonstatten gehen. Die eine Gedenkfeier, die der Kommunisten, findet später in der Abgeschiedenheit von Szczukas Hotelzimmer statt, während unten der fragwürdige Klüngel lärmt, der sich um den neuernannten Minister geschart hat. Die anderen beiden Feiern, die der Kleinbürger und die von Maciek und Andrzej, ereignen sich nun in den Gesellschaftsräumen des Hotels – beide gleichzeitig und in derselben Räumlichkeit und dennoch getrennt durch eine tiefe Kluft (Szene 12). Zur Feier des Tages erklingt Roter Mohn am Monte Cassino, ein Loblied auf die polnischen Partisanen, die 1944 in Italien am Monte Cassino eine deutsche Festung eroberten. Die Bar leert sich, so daß Maciek und Andrzej nun allein in dem weiten halbdunklen Raum sind, in dem man lediglich wie von weit her das Getümmel von nebenan wahrnimmt. Und während dort der Tabaksqualm in dichten Schwaden aufsteigt, halten Maciek und Andrzej nebenan auf eine liebenswert »halbstarke« Weise Rückschau auf die Zeiten ihres eigenen Partisanenkampfes. Das, was die bürgerlich-aristokratischen Spießer nebenan salbungsvoll zelebrieren, die Andacht an die gefallenen Kriegskameraden, meinen Maciek und Andrzej dagegen aufrichtig. Das Lied wird hierbei zu einem politischen Symbol, das an die alten Kriegstage erinnert. Zugleich übernimmt es die Funktion der ideologischen Verklammerung, denn es eint sowohl die Kleinbürger und Aristokraten wie auch jene »echten« Partisanen wie Maciek und Andrzej in stiller Andacht. Neben dieser inhaltlichen Funktion weist Lissa dem Partisanenlied auch eine formale Aufgabe zu, denn es repräsentiert als aktuelle Musik sowohl die in der Szene dargestellte Zeit als auch eine »vorgestellte Zeit«, nämlich jene durch das Lied erweckten Assoziationen. Lissa unterstellt, daß jene Assoziationen des Zuschauers mit denen der Filmhelden übereinstimmen, nämlich die emotional geladenen Erinnerungen an die heroischen Tage des Warschauer Aufstandes.33

33 Lissa 1965, S. 93.
Wenn man bedenkt, daß Lissas Monographie im Jahre 1965 erschien, so ist dies durchaus nachvollziehbar. In den neunziger Jahren kann man solche Assoziationen jedoch nicht mehr unbedingt voraussetzen. Das Lied, so führt Lissa weiterhin aus, leistet über diese Assoziationsschiene zudem einen Kommentar darüber, wie die Filmhelden Maciek und Andrzej als Warschauer Aufständische waren und zu welcher Rolle sie heute abgesunken sind, nämlich zu Mördern. Die Musik gestattet hier also eine Art künstlerische Ellipse, welche die visuelle Schicht allein nie hätte erreichen können. Das Lied ist also nicht mehr nur reine Begleitmusik, sondern ein Mittel zur Entwicklung der Dramaturgie, das über das Bild hinaus der Darstellung des psychischen Lebens der Helden dient.34
34 Lissa 1965, S. 139.
Sie hilft dem Zuschauer, die politischen Verhältnisse von einst und jetzt nachzuvollziehen und zu kommentieren. Damit erweist sich diese Szene letztlich als Repräsentant eines selbständigen Handlungszweiges mit ausschließlich auditiven Mitteln parallel zu einem

Erste Seite (i) Vorherige Seite (122)Nächste Seite (124) Letzte Seite (600)      Suchen  Nur aktuelle Seite durchsuchen Gesamtes Dokument durchsuchen     Aktuelle Seite drucken Hilfe 
- 123 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik