- 115 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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eine subjektive Verurteilung der Nutzlosigkeit der Opfer, die während des Krieges gebracht worden waren, und der Absurdität der Geschichte. Die Vergangenheit forderte deshalb eine Abrechnung in der Sphäre des sozialen Bewußtseins. Und das war die Rolle, die das Kino zu spielen hatte.«10
10 Jacek Fuksiewicz 1973, zit. n. Kirschner 1977, S. 55.

Die Ästhetik der Polnischen Schule entwickelte sich unter dem Einfluß zweier Phänomene, die auf den ersten Blick eher im Widerspruch zueinander stehen: die nationale Literatur der Romantik und der italienische Neorealismus. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde die bis dahin etwa 150-jährige Teilung Polens fortgesetzt. In den Jahren 1772, 1793 und 1795 wurde das Land in drei Zerstückelungsschüben zwischen Preußen, Österreich-Ungarn und Rußland erstmals vollständig aufgeteilt. 1815 »bastelte« der Wiener Kongreß ein Gebilde, das nur dem Namen nach noch an den einstigen Staat erinnerte: »Kongreßpolen«. Die vierte Teilung war damit vollendet. Nachdem sich Polen in den Jahren 1918 bis 1939 als Republik Polen etabliert hatte, wurde das Land 1939 nach dem »Hitler-Stalin-Pakt« zwischen dem Dritten Reich und Rußland zum fünften Mal aufgeteilt. Die erneute Fremdherrschaft trug während des Krieges in hohem Maße dazu bei, daß jene Stimmungen in der polnischen Volksseele wiederbelebt wurden, die Schriftsteller des 19. Jahrhunderts wie Adam Mickiewicz oder Juliusz Slowacki in ihren Werken geschildert hatten. Diese beklagten den »Verlust des Vaterlandes« und legten ihre Hoffnungen in den Novemberaufstand von 1831 und den Völkerfrühling von 1848. Die Romantik in der Literatur wurde damit zu einem Träger des Nationalbewußtseins. Die Folge: die Symbole und emotionalen Linien der Romantik beherrschten auch die Phantasie der Polen, die während des Zweiten Weltkrieges unter der deutschen Okkupation heranwuchsen weitaus stärker als die Generation der Vorkriegsjahre. Aus dieser Funktion heraus ist auch die Faszinationskraft der Literatur auf die Polen und ihr Geschichtsbewußtsein zu verstehen.11

11 Kirschner 1977, S. 56.

Die Anhänger der Polnischen Schule gehörten zu dieser literaturbewußten Generation. Ihr Verhältnis zur historischen Tradition romantischer Literatur ist grundlegend für die zentrale Thematik der Filme der Polnischen Schule, die auch in den drei frühen Filmen Wajdas ambivalent wird – die des heroischen Widerstandes und das Verhältnis des Einzelnen zur Geschichte. Das Prinzip der Treue bis in den Tod steht hierbei im Vordergrund. Die starke Betonung der Treueprinzipien entstammt der aus der Tradition der romantischen Literatur verpflichteten Erziehung der Kriegsgeneration. Damit einher geht jedoch die Frage nach dem Sinn des Widerstandes, unbedingter heldenhafter – zwanghafter – Kampf bis in den sinnlosen Tod – ohne jeglichen Realitätsbezug. Auch Wajda thematisiert diesen Zwiespalt in seinem Film Asche und Diamant.12

12 Vgl. Kap. 8.2, Inhalt und Dramaturgie.

Auf der anderen Seite steht der Einfluß des italienischen Neorealismus13

13 Vgl. auch Kap. 11.1.1, Entstehungsgeschichte und Genre des Films Tod in Venedig von Visconti.
auf die Entwicklung der Polnischen Schule. Die Bedingungen, unter denen sich diese neue Richtung im italienischen Film etablierte, waren denen Polens recht ähnlich. Die Erschütterungen des Krieges und der Zeit danach, Verfolgung, Tod, Ratlosigkeit, aber auch die Entschlossenheit zum Wiederaufbau der Nation, Staat und Gesellschaft auf eine demokratische Grundlage zu stellen sowie die kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Die Regisseure des Neorealismus, darunter vor allem de Sica und Rosselini, verstanden den Film als ein Dokument der Zeit von authentischen Ausmaßen. Sie gründeten ihren Stil in der chronologischen Beschreibung der Realität, in der diese unverstellt und faktisch erscheinen sollte. Das Bewußtsein, ein geschichtliches wie auch ein Zeugnis der Gegenwart abzugeben, bestimmte das Pathos dieser Kunst und machte gleichzeitig ihre Moral aus.

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