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Auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 wurde im Zuge der Entstalinisierung überraschend der »Personenkult« Stalins und dessen Terrorherrschaft verurteilt. Unter diesem Eindruck versuchte sich die polnische Bevölkerung im Oktober des Jahres gegen die sowjetischen Machthaber aufzulehnen. Auf der Sitzung des Zentralkomitees am 19. Oktober kritisierte Wladyslaw Gomulka die bisherige Politik der Partei und forderte einen freiheitlicheren Kurs. Zwei Tage später wurde er zum ersten Sekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei gewählt. Er war selbst ein Opfer des Stalinismus und genoß breite nationale Unterstützung, die es ihm ermöglichte, ohne allzu großen administrativen Druck aus Moskau zu handeln. Um der neuen »konterrevolutionären« Stimmung in Polen den Wind aus den Segeln zu nehmen, mußte das Zentralkomitee der K.K. alles an Reformen zulassen, was noch gerade mit der Loyalität gegenüber der UdSSR vereinbar war. Das Reglement der Zensur wurde gelockert. Der Film reagierte unter allen Künsten am sensibelsten auf das neue politische Klima. Seit Gomulkas Machantritt erfuhr die polnische Filmproduktion einen Aufschwung und entwickelte sich zu dem künstlerisch führenden der damaligen Ostblockstaaten. Viele Filme konnten nun auf internationalen Festivals konkurrieren.8
8 Ulrich Gregor/Enno Patalas: Geschichte des Films 2: 1940–1960. Reinbek 1989, S. 422.

Die Polnische Schule (1956–1962)

Die veränderten politischen Bedingungen und die damit einhergehende ökonomische Umschichtung der Filmproduktion öffneten der Entwicklung der Polnischen Schule Tür und Tor. An der staatlichen Filmhochschule in Lodz wurde eine Reihe von Regisseuren ausgebildet, deren Werke heute zu den markantesten dieser Filmbewegung gehören, darunter Jerzy Kawalerowicz, Andrzej Munk und schließlich Andrzej Wajda. Sie gelten als die »drei Großen« der Polnischen Schule. Kirschner bezeichnet diesen Begriff als irreführend, da hiermit kein einheitlicher Stil von durchgängiger Stringenz verbunden werden könne wie etwa beim Film d’Art. Dennoch gibt es thematische Gemeinsamkeiten, welche die Filme der Polnischen Schule im allgemeinen miteinander verbinden: Die Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit Polens, das Thema des heroischen Widerstandes gegen die deutsche Fremdherrschaft in den Kriegsjahren, das Trauma nationaler Vernichtung, erweitert um die Dimension der unmittelbaren Konsequenzen für das Individuum der damaligen Gegenwart.9

9 Kirschner 1977, S. 54; vgl. auch Boleslaw Michalek/Frank Turaj: The Modern Cinema of Poland. Bloomington/Indianapolis 1988, S. 21; Gregor/Patalas 1989, S. 430.
Was sich in früheren kurzen Liberalisierungswellen bei Ford und Wajda bereits angedeutet hatte, wurde in den Filmen der Polnischen Schule zum Quellenmaterial: Ein psychologisch durchstrukturierter Held unterwanderte die bisherige Dominanz des sozialistischen Realismus. Gefühle und die Darstellung des Privatlebens des Helden implizieren Bereiche, die dem bisherigen eindimensionalen »positiven Helden« des sozialistischen Realismus gänzlich fehlen. Die Figuren erscheinen lebensnah und sind glaubhaft gezeichnet. Polnische Filme wurden zum Zentrum allgemeiner Gefühle und sozialer Stimmungen. Diese lagen um politische Probleme zentriert, ihre Wurzeln reichen jedoch zurück bis zum Zweiten Weltkrieg und den ersten Jahren danach. Der Krieg wurde nicht länger als heroische Notwendigkeit betrachtet, sondern als ultimatives Beispiel von Leid und persönlichen Tragödien, die weder durch ein siegreiches Ende des Krieges noch durch eine gemeinsame Ideologie weggewischt werden konnten. Die sozialistische Revolution des Jahres 1945 hatte nicht nur die alte mittelständische sozialpolitische Struktur aufgebrochen und ausgerottet, sie setzte auch ein Fragezeichen hinter ein System von gesellschaftlichen Werten, das vom Landadel geerbt war. Fuksiewicz schreibt hierzu: »Nicht nur die physische Vernichtung, sondern auch die moralische Krise in der politischen Orientierung eines ziemlich großen Teils der Gesellschaft erforderten

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