- 113 -Merten, Jessica: Semantische Beschriftung im Film durch "autonome" Musik 
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Wirkung in der Sowjetunion zurückblicken. Er fiel erstmals offiziell im Herbst 1932 anläßlich einer Konferenz der »Russischen Assoziation Proletarischer Schriftsteller« (RAPP). Damit markierte er einen Einschnitt in der bisherigen offiziellen Kulturpolitik der UdSSR, was für ein knappes Vierteljahrhundert nicht nur weitreichende Folgen für die Sowjetunion haben sollte, sondern auch für alle unter ihrem Einfluß stehenden Länder. Mit konkretem Inhalt füllte Andrej Shdanow, Stalins kulturelles Sprachrohr, den Begriff des sozialistischen Realismus auf dem I. Unionskongreß der Sowjetschriftsteller im Jahre 1934. Dabei schwang er sich zu folgenden pompösen Bemerkungen hoch: »Die Haupthelden der literarischen Werke sind in unserem Land die aktiven Erbauer des neuen Lebens: Arbeiter [...], Kollektivbauern [...], Parteifunktionäre, Wirtschaftler, Ingenieure, Komsomolzen und Pioniere. [...] Unsere Literatur ist erfüllt von Optimismus und Heldentum. [...] Sie ist optimistisch ihrem Wesen nach, weil sie die Literatur der aufsteigenden Klasse, des Proletariers, der einzigen fortschrittlichen und fortgeschrittenen Klasse ist. [...] Dabei muß die wahrheitsgetreue und historisch konkrete künstlerische Darstellung mit der Aufgabe verbunden werden, die werktätigen Menschen im Geiste des Sozialismus ideologisch umzuformen und zu erziehen. Das ist die Methode, die wir in der schönen Literatur [...] als die Methode des sozialistischen Realismus bezeichnen.«4
4 Andrej Shdanow 1934, zit. n. Klaus Kirschner: Asche und Diamant. Die Geschichte des polnischen Spielfilms von 1899 bis 1976. Erlangen 1977, S. 42–43.

Mit zunehmendem Aufbau der Industrie und sozialer Umgestaltung im Inneren des Staates zu Beginn der dreißiger Jahre wurde dem Film im Dienste der Parteidoktrin eine aktive Helferrolle, eine Mittlerfunktion zugewiesen. Lediglich der Inhalt, das »Typische, der politische Extrakt« eines Werkes galt als verbindlich. Das Dogma verbot alle »formalistischen« Tendenzen als »dekadent«. Die Folgen davon waren Schematismus, Stereotypen und Standardisierung, einfache Schwarz-Weiß-Malerei: auf der einen Seite die positiv strahlenden Helden, jedoch psychologisch unglaubwürdig gezeichnet, auf der anderen Seite die »Agenten«, »Saboteure« und andere durchtriebene Schurken, »Feinde der Errungenschaften des Sozialismus«. Mit Beginn der fünfziger Jahre hatte der sozialistische Realismus den polnischen Film erreicht. Dies hatte weitreichende Folgen. Die Anzahl der produzierten Filme nahm deutlich ab – eine Folge der künstlerischen Einschnürungen und Gesinnungsdiktaten. Individuelle Geschichten wurden im polnischen Film lediglich zur Folie zur Illustration von Machtstrukturen, die von abstrakten und schematisierten Charaktermasken verkörpert wurden.

Im Jahre 1956 trat eine Liberalisierung des polnischen Films ein. Die Ursache lag wiederum in der UdSSR: Josef Stalin stirbt am 5. März 1953. Diese erste »Tauwetter-Periode« nach Stalins Tod hatte nun auch Polen erreicht.5

5 Kristin Thompson/David Bordwell: Film History. An Introduction. New York/St. Louis/San Francisco u.a. 1994, S. 474; vgl. auch Enno Meyer: Grundzüge der Geschichte Polens. Darmstadt 1990, S. 118–119.
In seinem Filmdebüt Pokolenie (Eine Generation), der erste seiner »Kriegstrilogie« (was sie jedoch im strengen Sinne nicht ist), zeigte Wajda bereits im Jahre 1954 deutliche Auflösungserscheinungen des sozialistischen Realismus. Wajda arbeitete hier zum ersten Mal an einer »romantischen« Subversion der herrschenden Normen, bearbeitete sie gegen den Strich, indem er das Debakel der einengenden Kunstdoktrin bloßlegte. Sein Protagonisten sind völlig differenziert charakterisiert; die Helden verlassen ihre vorgeschriebene Dimension, sie werden zu Individuen.6
6 Mira und Antonín J. Liehm: The Most Important Art. Eastern European Film after 1945. Berkeley/London 1977, S. 182.
Die Vorwegnahme des differenzierten Helden und seiner individuellen Prägung wertet Kirschner zu Recht als Signal der in der Mitte der fünfziger Jahre aufkommenden Liberalisierung des polnischen Films.7
7 Kirschner 1977, S. 51.

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